Siegfried Landshut - Ankunftsort Hamburg (von Wolfgang Knöbl)
Geboren 1897 in Straßburg, aufgewachsen in einer assimilierten jüdischen Familie, Teilnahme am Ersten Weltkrieg, zunächst in Frankreich, dann Russland, Verwundung 1916, im gleichen Jahr erneut eingezogen und zurück an die Front, Unteroffizier in Aleppo, Kriegsende, Sich-Durchschlagen nach Konstantinopel, von dort zurück per Schiffspassage nach Hamburg – im März 1919.
Siegfried Landshuts Jugendjahre waren turbulent, aber nicht untypisch für Männer seiner Generation, die in den Krieg ziehen mussten. Ahnen konnte Landshut damals noch nicht, dass ihn die ungewollt abenteuerlichen Züge seines Lebens weiterhin begleiten würden, wissen konnte er nicht, wohin ihn die Flucht vor den Nationalsozialisten und das Exil noch führen sollten. Vielleicht aber lässt sich im Rückblick auf seine akademische Karriere, die in der jungen Weimarer Republik mit der Aufnahme eines Jurastudiums und dann des Studiums der Nationalökonomie in Freiburg begann, sein Weg so deuten, dass er im Denken jene Stabilität suchte, die ihm in seinem Leben verwehrt blieb. Jedenfalls bis zu seiner Rückkehr auf den Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg im Jahre 1951. Denn was die intellektuelle Entwicklung Landshuts auszeichnet, ist ein von Anfang an erkennbares und vor allem kontinuierliches Hinterfragen sozial- und geisteswissenschaftlicher Positionen, also die grundsätzliche und stetige Kritik an für weitgehend unproblematisch erachteten Theoremen und Begriffen. Dadurch wurde er zum wissenschaftlichen Außenseiter, und genau deshalb sind seine Arbeiten auch heute noch interessant für all diejenigen, welche die Entwicklung einer oft drittmittelgetriebenen Forschung zunehmend kritisch sehen und deren Relevanz infrage stellen. Man liest Landshut heute als einen Klassiker der Sozialwissenschaften, weil er Fragen aufwarf und Denkanstöße lieferte, die nicht nur historisierend einzuordnen, sondern auch heute noch aktuell sind.
Der wissenschaftliche Standort und intellektuelle Reibungspunkte
Landshut war ein Intellektueller zwischen den Disziplinen, der in der Soziologie genauso beheimatet war wie in der Politik- oder Wirtschaftswissenschaft. Wenn man Landshuts wissenschaftliche Position genauer charakterisieren will, so stößt man unmittelbar auf drei Spezifika seiner Argumentationsweise.
Erstens, Landshut war ein zutiefst politischer Denker und Intellektueller in dem Sinn, dass er nie bereit war, Wissenschaft als eine Art Glasperlenspiel zu betreiben, das sich mit der Lösung beliebiger und damit eben austauschbarer Probleme beschäftigt. Sein wohl bekanntestes Werk, die »Kritik der Soziologie – Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie« aus dem Jahre 1929, beginnt deshalb mit einer scharfen Kritik an der Orientierungslosigkeit dieser Disziplin hinsichtlich ihrer eigenen Fragestellung, einer Kritik, die auch vor den Arbeiten eines Max Weber nicht haltmacht, dem er eine allzu subjektivistische Wissenschaftsauffassung und diesbezüglich – zumindest was dessen methodische Schriften betrifft – ein Selbstmissverständnis vorwirft. Wissenschaft, und dies gilt insbesondere für die Soziologie, lässt sich Landshut zufolge nicht über Methoden (und Theorien) definieren, die auf beliebige Gegenstände appliziert werden – ein Argument, das damals so wichtig war wie heute. Landshut war diesbezüglich der Auffassung, dass eine solche Vorgehensweise über kurz oder lang notwendig zu einer Auflösung und Fragmentierung des Faches führen müsse. Am Beginn habe deshalb die Suche nach und die Beschäftigung mit einer zentralen Problematik der Soziologie zu stehen, zuallererst gelte es ihren »Sachcharakter« historisch aufzudecken, aus dem sich erst alles Weitere ergebe.
So sehr Landshut auch Max Webers empirische Analysen geschätzt haben mag, er wirft ihm folglich vor, dass er dasjenige nicht ausreichend gewürdigt und zur Disziplinbestimmung genutzt habe, was etwa das Werk von Karl Marx unter anderem auszeichnete: nämlich das kontinuierliche Arbeiten an einer ganz bestimmten praktischen Fragestellung, aus der heraus Marx (s)eine neue politische Ökonomie begründen wollte. Landshut selbst war nun mit Blick auf die Soziologie der Meinung, dass diese sich (von Weber und vielen anderen übersehen oder fehlgedeutet) von Anfang an ganz zentral mit der Problematik des oft widersprüchlichen Zusammenhangs von Freiheit und Gleichheit beschäftigt habe, dass es genau dieses Thema war, das für die Gründung der Disziplin konstitutiv geworden sei. Unabhängig davon, ob man dieser Behauptung Landshuts vorbehaltlos zustimmen wird, sein Argument verweist doch auf einen wichtigen Punkt: Die Sozialwissenschaften im Allgemeinen und die Soziologie im Besonderen haben sich stets nach der (gesellschaftspolitischen) Relevanz und dem Problemkern ihrer Fächer und Forschungen zu fragen.
Zweitens, Landshuts Reflexionen über den historischen Sachcharakter von Disziplinen führen dazu, dass er von Anfang an sozialwissenschaftliche Begriffe konsequent kontextualisiert und historisiert. Mit feinem Gespür für die Problematik in der Soziologie verbreiteter Dichotomien, wie jener zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (Ferdinand Tönnies), weist er auf deren historischen Ursprung hin und mithin dann darauf, dass sie Problemstellungen transportieren, die zeitgenössischen Konstellationen nicht mehr angemessen sind. Und mit ebenso feinem Gespür spießt er die Reifizierungsgefahr auf, die in Begriffen steckt: Wie er schon in einem seiner frühesten Texte (»Über einige Grundbegriffe der Politik«, 1925), aber auch in seiner Habilitationsschrift von 1933 (»Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen«) betont, ist es wenig sinnvoll, das Politische oder die Politik bzw. das Ökonomische und die Ökonomie ein für alle Mal definieren zu wollen. Die Vorstellung, politisches bzw. ökonomisches Handeln sei stets gleich verstanden worden, weist er vehement zurück, wodurch er die Türen für eine Analyse historischer Semantiken weit öffnet. Landshuts Blick für »die eigentümliche Veränderung und Wandelbarkeit« von Termini ist gerade heute wieder von so enormer Bedeutung, weil Sozialwissenschaftler_innen – belehrt von Einsichten der Globalgeschichte – nicht mehr so ohne Weiteres von der im »Westen« lange Zeit für selbstverständlich gehaltenen Existenz abgegrenzter Wertsphären und Subsysteme ausgehen können, da also nicht weiter hinterfragte differenzierungstheoretische Annahmen nicht nur außerhalb des »Westens«, sondern auch gerade bei »uns« zunehmend an der Wirklichkeit vorbeigehen. Damit erlaubt die Lektüre der Texte von Landshut, neue theoretische Fragen zu stellen und die Sozialwissenschaften zu öffnen für Wandlungs- und Prozessanalysen.
Drittens, Landshut ist für die Sozialwissenschaften nicht nur deshalb von so großer Bedeutung, weil er Interdisziplinarität tatsächlich gelebt, gedacht und angewandt und wie wenige andere Intellektuelle seiner Generation dieses Wissenschaftsideal bis zum Ende seiner akademischen Karriere hochgehalten hat: Vom Soziologen, Politologen und Nationalökonomen Landshut war ja schon die Rede, wobei man auch den Ideenhistoriker Landshut mit seinen Arbeiten insbesondere zu Marx und Tocqueville nicht vergessen sollte.
Wichtig und bemerkenswert ist mit Sicherheit auch die Charakterisierung von Landshut als einem Intellektuellen, der – obwohl aus der Theorie- und Ideengeschichte kommend – auch die Empirie nie aus dem Blick verliert, sondern in seinen im Exil entstandenen Arbeiten zu Palästina/Israel gerade auch die empirische Forschung in vorbildlicher Weise, nämlich theoretisch und historisch gesättigt, vorangetrieben hat. Für ein Institut wie das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) kann und sollte Landshuts praktizierte Verknüpfung von Theorie und Empirie ein Vorbild sein.
Landshut heute und das Hamburger Institut für Sozialforschung
Von Ende her betrachtet kann Siegfried Landshuts akademische Karriere dann doch als erfolgreich bezeichnet werden – berücksichtigt man seine Berufung auf eine Professur nach Hamburg und sein Wirken und seinen Einfluss in der deutschen Politikwissenschaft in den 1950er und 1960er Jahren. Sie könnte freilich anders bewertet werden, wenn man darüber nachzudenken beginnt, welche Hindernisse Landshut zu überwinden hatte, wie sehr ihn die unendlichen Schwierigkeiten seiner Exilzeit von der produktiven Arbeit abgehalten haben, welche Werke vielleicht hätten entstehen können, wenn ihm sehr viel früher der institutionelle Erfolg gegönnt worden wäre und ihn Verfolgung, Vertreibung und Existenznot nicht Jahre seines Lebens gekostet hätten. Doch derartiges Nachdenken und Spekulieren ist letztlich müßig. Landshut hat nicht wenige Werke hinterlassen, aber Vieles musste aufgrund der biografischen Umstände bruchstückhaft bleiben. Dennoch sind seine Vita und seine Schriften wahrlich beeindruckend genug, um am HIS eine Vorlesungsreihe zu etablieren, die seinen Namen trägt.