Zeitleiste: Siegfried Landshut
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2,26 MB, PDF, 08.05.2023

Prof. Dr. Rainer Nicolaysen ist Leiter der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte der Universität Hamburg und Landshut-Biograf. Am 22. Oktober 2018 hat er im Rahmen der Tage des Exils einen Vortrag zu Siegfried Landshut am HIS gehalten.

Siegfried Landshut redivivus (von Rainer Nicolaysen)

Als der Politikwissenschaftler Siegfried Landshut vor fünfzig Jahren, im Dezember 1968, starb, hinterließ er ein weit verstreut erschienenes, zum Teil unter widrigsten Lebensumständen entstandenes Werk, das bis heute für die Politische Wissenschaft als ebenso grundlegend wie anregend gelten kann, das aber, sperrig gegenüber jedem Mainstream, schon zu Landshuts Lebzeiten nur begrenzt rezipiert wurde und nach seinem Tod weitgehend in Vergessenheit geriet. Bereits in seiner Akademischen Gedächtnisrede auf den früheren Hamburger Kollegen hat Wilhelm Hennis 1969 betont, er wüsste kaum ein Werk eines deutschen Gelehrten zu nennen, dessen Wirksamkeit durch »die Ungunst der Zeit« so beeinträchtigt worden wäre wie dasjenige Landshuts. Selbst engste Fachkollegen wüssten lediglich, dass Landshut der Herausgeber der Frühschriften von Karl Marx sei und eine ausgezeichnete Tocqueville-Auswahl betreut habe.1 Knapp dreißig Jahre später, aus dem Rückblick des Jahres 1998, hat Hennis Landshut dann als den wohl unbekanntesten unter den »Gründervätern« seines Faches bezeichnet, zugleich aber als den »bedeutendste[n] Kopf« der ersten Generation der Politikwissenschaft nach 1945.2
Trotz medialer Aufmerksamkeit für die 1997 erschienene Biografie über Siegfried Landshut3 und die zweibändige Auswahlausgabe seiner Schriften 20044 wird Landshut bisweilen auch heute noch und selbst in einschlägigen Zusammenhängen übergangen: Als sich Jürgen Habermas 2011 auf einer Tagung über »Jüdische Stimmen im Diskurs der sechziger Jahre« an die Bedeutung (r)emigrierter Philosophen und Sozialwissenschaftler für die politische Kultur der frühen Bundesrepublik wie auch für ihn persönlich erinnerte, nannte er alle zu erwartenden Namen – außer denjenigen Landshuts. Die Neue Zürcher Zeitung, die den ansonsten eindrücklichen Habermas-Vortrag unter dem Titel »Grossherzige Remigranten« in derselben Woche abdruckte,5 ergänzte dann den Artikel – allerdings unbeabsichtigt – um den Vergessenen: Sie illustrierte den Text mit einem Foto vom Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1964, das neben Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas auch den in der Bildunterschrift freilich ungenannten Siegfried Landshut zeigt. An diesem Kongress anlässlich des 100. Geburtstages von Max Weber, der Fachgeschichte schrieb und von Habermas als intellektuelles Großereignis der 1960er Jahre geschildert wird, nahm Landshut als ausgewiesener Kenner des Weber’schen Werkes teil. Schon in seiner »Kritik der Soziologie« von 1929 räumt er der Auseinandersetzung mit Max Weber einen zentralen Platz ein – ein Buch, das Habermas selbst vor etlichen Jahren als einen der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Beiträge in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik gewürdigt hat.6 Wenn gerade Landshut in dem Artikel so ungenannt wie unerkannt bleibt, ist dies weder vorsätzlich noch zufällig, sondern symptomatisch für eine schwierige Rezeption, die zumindest teilweise bis heute noch ihre Fortschreibung findet.
Dass es für Landshuts Werk nicht einfach war, sich im fachwissenschaftlichen Diskurs durchzusetzen, hängt vor allem mit zwei Gründen zusammen: zum einen mit dem Bruch, den ein siebzehn Jahre währendes Exil für Landshuts wissenschaftliche Laufbahn bedeutete, in seinem Fall verstärkt noch dadurch, dass er nicht wie viele andere von den Nationalsozialisten vertriebene Sozialwissenschaftler in die USA emigrierte, sondern im nahöstlichen Exil, in Ägypten und Palästina, von wissenschaftlicher Arbeit und entsprechendem Austausch weitgehend abgeschnitten war, und zum anderen mit dem Werk selbst, das, orientiert am aristotelischen Politikverständnis, auch nach der Remigration in einer sich erst etablierenden westdeutschen Politikwissenschaft eher randständig blieb.
Konsequent wie kaum ein anderer Politikwissenschaftler im 20. Jahrhundert hat Siegfried Landshut die Politische Wissenschaft aus ihrer eigenen, mehr als zweitausendjährigen Tradition heraus wieder zu begründen versucht. Politik war für Landshut nicht nur eine der ältesten Wissenschaften, sie war für ihn auch die im aristotelischen Sinne königliche Disziplin, diejenige, die die bestimmenden Fragen des menschlichen Miteinanderlebens zum Thema hat und die sich als praktische Wissenschaft an einem Zweck orientiert: am Gemeinwohl, am guten Leben. Landshuts gesamtes Werk zielt darauf, den Verlust eines solchen Politikverständnisses, das nichts mit Kampf um Macht oder bloßer Verwaltung und Sicherung des Lebens zu tun hat, durch rückwärts aufklärende Untersuchungen kenntlich zu machen und damit wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Insofern war es ein programmatischer und hinsichtlich seiner akademischen Karriere auch mutiger Akt, als Landshut 1928 an der Hamburgischen Universität als erster deutscher Wissenschaftler im 20. Jahrhundert um Zulassung zur Habilitation für »das Fach der Politik« bat: ein Fach, das es zu jenem Zeitpunkt an keiner Universität in Deutschland gab. Seine Habilitationsschrift »Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und politischen Problematik«, deren Annahme am Veto des Soziologen Andreas Walther scheiterte, erschien 1929 unter besagtem Verlagstitel »Kritik der Soziologie«7 – »Apologie der Politik« wäre treffender gewesen. Als grundlegende Methodenkritik der Sozialwissenschaft wurde der Band zeitgenössisch in der Zunft breit und kontrovers diskutiert. Nach dem Wiederabdruck in der Auswahlausgabe von Landshuts Schriften 2004 urteilte Michael Th. Greven, die »Kritik der Soziologie« müsse »als ein Gründungsdokument des politikwissenschaftlichen Neo-Aristotelismus gelesen und Landshut selbst zeitlebens als einer seiner tiefgründigsten Vertreter anerkannt werden«.8
Im Nachkriegsdeutschland gehörte Landshut zu den »Gründervätern« der Politikwissenschaft. Dafür kehrte er 1950 an jene Universität zurück, von der er 1933 als Jude vertrieben worden war. 1951 erhielt der knapp 54-jährige Remigrant den neu eingerichteten Hamburger Lehrstuhl für die »Wissenschaft von der Politik«, einen der ersten in der Bundesrepublik. Vierzehn Jahre lang vertrat Landshut die Politikwissenschaft in Hamburg, über zehn Jahre lang als einziger Professor in diesem Fach. Entgegen der verbreiteten Ansicht, es handele sich um eine neue, erst nach 1945 aus den USA »importierte« Wissenschaft, insistierte er erneut, Politik sei eine der ältesten Disziplinen überhaupt: »[…] der Begriff Politik ist ja nicht von gestern. Er ist neben Physik, Metaphysik und Ethik einer der ältesten Begriffe zur Bezeichnung einer Wissenschaft, der Wissenschaft von der Polis, der politischen Gemeinschaft, der res publica.«9
In eben diesem Sinne hat Landshut die Politikwissenschaft wieder zu beleben versucht und zugleich die neuzeitliche Entwicklung, die zum Traditionsabbruch geführt hatte, einer grundlegenden Kritik unterzogen. Als Diagnostiker der Moderne bezog er sich insbesondere auf Tocqueville, Marx und Max Weber. Landshuts »erfolgreichste und folgenreichste Arbeit«10 war seine Marx-Interpretation, die das philosophische Frühwerk von Marx und damit dessen Begriff der »Selbstentfremdung des Menschen« in den Mittelpunkt rückte. Die beiden blauen Bände der Frühschriften von Karl Marx in der Kröner-Taschenausgabe machten Landshut 1932 auf einen Schlag international bekannt;11 seine einbändige Ausgabe von 1953 ist noch heute in siebter Auflage erhältlich.12 Vor allem die Veröffentlichung der von Landshut aufgespürten »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844«, der sogenannten »Pariser Manuskripte«, war eine Sensation und bedeutete eine Zäsur vor allem für die westliche Marx-Forschung.
Angesichts der hier nur angedeuteten Dimension von Landshuts Arbeiten, seiner wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamen Rolle und seiner Lebensgeschichte als einer der wenigen jüdischen Remigranten in der Bundesrepublik erstaunt trotz der genannten Gründe eben doch, wie sehr Landshut nach seinem Tod in Vergessenheit geraten konnte, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade derjenige Politikwissenschaftler, der in besonderem Maße Tradition und Gewichtigkeit des Faches zu akzentuieren suchte, später selbst Opfer der von ihm kritisierten Geschichtsvergessenheit auch und gerade in der eigenen Wissenschaftsdisziplin geworden ist.
Siegfried Landshut war ein origineller, ein eigenständiger, für manche auch unbequemer Denker, kritisch, aber nicht resignativ, historisch arbeitend, aber stets gegenwartsbezogen. Sich an seinen Thesen und Argumentationen abzuarbeiten, lohnt noch immer. Dass in seinem Werk Fraglichkeiten und Probleme aufgetan, nicht jedoch schnelle Lösungen geboten werden, kann kaum verwundern. Manche von Landshuts Deutungen waren zeitverhaftet und erscheinen heute überholt, aber durch die Grundsätzlichkeit fast aller Schriften ist Landshuts Werk von mitunter erstaunlicher Aktualität und eine intellektuelle Herausforderung, die noch immer vielfältig zu inspirieren vermag.

Anmerkungen

1 Wilhelm Hennis: Zu Siegfried Landshuts wissenschaftlichem Werk. In: Zeitschrift für Politik N.F. 17 (1970), S. 1–14, hier S. 1 f.

2 Politikwissenschaft als Disziplin. Zum Weg der politischen Wissenschaft nach 1945. Wilhelm Hennis im Gespräch mit Gangolf Hübinger [am 11. 11. 1998]. In: Neue Politische Literatur 44 (1999), S. 365 – 379, hier S. 370.

3 Rainer Nicolaysen: Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1997.

4 Siegfried Landshut: Politik. Grundbegriffe und Analysen. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk in zwei Bänden. Hrsg. von Rainer Nicolaysen. Berlin 2004.

5 Jürgen Habermas: Grossherzige Remigranten. Über jüdische Philosophen in der frühen Bundesrepublik. Eine persönliche Erinnerung. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 152 vom 2. 7. 2011, S. 21 f.; leicht verändert abgedruckt unter dem Titel »Jüdische Philosophen und Soziologen als Rückkehrer in der frühen Bundesrepublik. Eine Erinnerung«. In: Jürgen Habermas: Im Sog der Technokratie (Kleine politische Schriften XII). Berlin 2013, S. 13 – 26.

6 Vgl. Jürgen Habermas: Soziologie in der Weimarer Republik. In: Wissenschaftsgeschichte seit 1900. 75 Jahre Universität Frankfurt. Mit Beiträgen von Helmut Coing, Lothar Gall, Jürgen Habermas, Notker Hammerstein, Hubert Markl, Wolfgang J. Mommsen. Frankfurt a. M. 1992, S. 29 – 53, hier S. 41 – 43.

7 Siegfried Landshut: Kritik der Soziologie. Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie. München/Leipzig 1929; wieder abgedruckt in: Ders.: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik (Politica, Bd. 27), Neuwied am Rhein / Berlin 1969, S. 11–117 sowie in der Werkausgabe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 43 – 188. Das Buch erschien zudem in japanischer und italienischer Übersetzung.

8 Michael Th. Greven: Siegfried Landshut. Ein Gründungsvater des politikwissenschaftlichen Neo-Aristotelismus. In: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 216 – 219, hier S. 217.

9 Siegfried Landshut: Politik. In: Heinz Brunotte/Otto Weber (Hg.): Evangelisches Kirchenlexikon. Kirchlich-theologisches Handwörterbuch, Bd. 3. Göttingen 1959, S. 248 – 250, hier S. 248; wieder abgedruckt in: Werkausgabe (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 293 – 296, hier S. 293 f.

10 Jürgen Dennert: Siegfried Landshut – in memoriam. In: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 14 (1969), S. 209 – 220, hier S. 212.

11 Karl Marx: Der Historische Materialismus. Die Frühschriften. 2 Bde. Hrsg. von Siegfried Landshut und Jacob Peter Mayer, unter Mitwirkung von Friedrich Salomon (Kröners Taschenausgaben, Bd. 91 und 92). Leipzig 1932.

12 Karl Marx: Die Frühschriften. Hrsg. von Siegfried Landshut (Kröners Taschenausgabe, Bd. 209). Stuttgart 1953 [zuletzt 7. Aufl. 2004].