Leben auf der Grenze

Die Imago des Zigeuners in der Literatur und den Künsten

(Stand April 2008)

Der Antiziganismus hat die Erfahrung des Holocaust fast unbeschadet überstanden – oder aber, schlimmer noch, seine Vorurteile an einen Philoziganismus weitergereicht, wo in den Phantasien von ungebundenen Nomaden und freidelirierenden Schizos die alte Sehnsucht von der ‚Freiheit hoch auf dem grünen Zigeunerwagen’ (Thomas Mann) als Theoriekitsch weiterlebt – dies ist eine der Hypothesen eines Forschungsvorhabens an der Schnittstelle von Philologie und Kulturgeschichte, das der Imago des Zigeuners in unterschiedlichen medialen Kontexten über die Jahrhunderte hinweg folgt. Nicht die Lebenswirklichkeit von Sinti und Roma, Manouches oder Kalderasch ist Gegenstand des Forschungsvorhabens, sondern Phantasien der Mehrheit über eine Minderheit, ein Artefakt also, das gleichwohl der Mehrheitsgesellschaft als unverzichtbare negative Orientierung ihrer Selbstverständigung dient. Seit rund 500 Jahren arbeiten Literatur, Bildende Künste, Musik, aber auch die sog. Ziganologie und schließlich auch der Film in ihren Versuchsanordnungen ein pittoreskes Phantasma aus: Die hexenhafte Wahrsagerin, die Tänzerin mit Tamburin und Fußschellen oder die Operettengestalt des treuherzigen Vagabunden sind die markantesten Figuren dieses Szenarios, dessen verführerische Attraktivität freilich durch die zwingende Verbindung seiner Protagonisten mit Schmutz, Gestank und Kreatürlichkeit nachhaltig beeinträchtigt wird.

Die mediale Konstruktion des Zigeuners folgt in ihren Konjunkturen vor allem außerästhetischen Interessen: sei es, dass im Nahbild des Zigeuners das Fernbild des edlen Wilden desillusioniert wird, sei es, dass die nomadische Lebensweise der romantischen Generation als Heilmittel für ihre Entfremdungserfahrung empfohlen oder dass materielles Elend und kriminelle Verwahrlosung die Realität des Vagabundentums zu illustrieren und damit ex negativo die Normen der bürgerlichen Welt zu bestätigen haben. Die Überprüfung einer möglichen Vereinbarkeit von Mehrheitsordnung mit der Lebensweise der Zigeuner in Literatur und Kunst führt fast durchweg zu einem negativem Ergebnis.

Unter dem Label ‚Zigeuner’ liegt ein Phantom- und Vorurteilskomplex vor, der sich – trotz einiger gemeinsamer Schnittmengen – von dem benachbarten des ‚Juden’ erheblich unterscheidet: Hier die vorgeblich nomadisierenden, nicht alphabetisierten, sexuell freizügigen Zigeuner, dort die integrationswilligen, schriftgelehrten und sexuell zurückhaltenden Juden. In beiden Fällen steht das Problem der Assimilation zur Verhandlung, aber zumeist mit gegensätzlichem Ergebnis: im Fall der Zigeuner droht sie zu scheitern, in dem der Juden, womöglich bedrohlicher noch, zu gelingen. Vor dem Hintergrund der derzeit geführten Diskussionen um Assimilation und Integration gewinnt das Vorhaben einer kulturgeschichtlichen Rekonstruktion der Zigeunerimago seine Aktualität.