Von der Ambivalenz des Lernens. Kriegserfahrung und Kriegsvorbereitung in der Generalstabsplanung und in der deutschen Politik, 1871-1914
(Stand September 2008)
"Welch eine Wende durch Gottes Fügung" – mit diesem Spruchband wurden die heimkehrenden Truppen am Brandenburger Tor begrüßt. Der Sieg gegen Frankreich 1870/71 galt schon den Zeitgenossen als der größte militärische Triumph in der preußisch-deutschen Geschichte. Dieser Krieg war kein militärischer Spaziergang gewesen: Es hatte sich keineswegs um einen kurzen Krieg gehandelt, nach dem Erfolg von Sedan hatten sich die verlustreichen Kämpfe noch mehrere Monate quälend dahingeschleppt. Der moderne Krieg war zum "Volkskrieg" geworden, konstatierte der deutsche Generalstabschef Helmuth von Moltke. Es genügte nicht mehr, die feindliche Armee im Feld zu schlagen, es galt ein ganzes Volk niederzuringen. Auch nach schweren Niederlagen meldeten sich die Männer freiwillig zur Armee oder fielen als Freischärler dem Gegner in den Rücken. Einen einmal begonnenen Krieg schnell und siegreich zu beenden, war unter diesen Umständen extrem schwierig geworden.
Diese Erfahrung von 1870/71 bestimmte bis 1914 die Planungen und strategischen Überlegungen des deutschen Generalstabs und hatte erheblichen Einfluss auf die Handlungsweise führender Politiker im Kaiserreich. In der breiten Öffentlichkeit jedoch verklärte sich die Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg und den Sieg von Sedan, der jährlich gefeiert wurde, zu einem Krieg, der mit der Kapitulation Napoleons III. entschieden gewesen sei. Auch die Offiziere des Kaiserreichs blieben von dieser Vorstellung nicht unbeeinflusst. Es war Helmuth von Moltke (der "Alte" Moltke), der die Führungselite, immer wieder an die Realität des Krieges erinnerte. Er mahnte, dass ein gesamteuropäischer Krieg durchaus zu einem sieben- oder gar dreißigjährigen Krieg werden könne, der schreckliche Folgen für den ganzen Kontinent haben würde - das Volkskriegssyndrom also eine furchtbare Bedrohung darstelle.
Ab 1871 war zu erkennen, dass dem Deutschen Reich aufgrund der internationalen Bündniskonstellationen ein Zwei- oder Mehrfrontenkrieg drohte, den man nur mit einem schnellen Sieg nach einer Seite erfolgreich bestehen zu können glaubte. Wie aber sollte ein solcher Sieg im "Zeitalter des Volkskrieges" erzielt werden? Um diese Frage drehten sich bis 1914 alle Planungsdebatten innerhalb des Generalstabs.
Generalstabchef Alfred von Schlieffen kam zu dem Schluss, dass allein im Westen die Chance für einen schnellen Sieg bestand. Doch sein berühmter Plan entstand in einer besonders günstigen Konstellation, nämlich zu einem Zeitpunkt (1905) als Russland nach der Niederlage gegen Japan zu sehr geschwächt war, um Frankreich im Ernstfall zu Hilfe zu kommen. Diese Gelegenheit war aufgrund des Wettrüstens aller Großmächte, schon bald verflogen. Helmuth von Moltke (der "Jüngere" Moltke) musste deshalb anders rechnen. Er hatte viel bei seinem Onkel gelernt und hielt einen kurzen Krieg für wenig wahrscheinlich, zumal sich die strategische Lage des Reiches zunehmend verschlechterte. Vieles deutet daraufhin, dass von Moltke für einen längeren Krieg plante. Gleichzeitig hoffte er, dass diese Katastrophe niemals eintreten würde. Als sie dann doch eintrat, war er nachweislich entsetzt.
Nach dem Sieg über Frankreich war das Sozialprestige des Offizierkorps enorm gewachsen, und die Angehörigen des Generalstabs galten als die obere Spitze der Elite. Nie zuvor waren deutsche Offiziere in der Bevölkerung so populär. Viele führende Offiziere träumten davon, sich endlich einmal wieder im Ernstfall beweisen zu können und der "Verweichlichung" der Gesellschaft entgegen zu wirken. Doch in der langen Friedenszeit, aber auch begründet durch die sich immer stärker herausbildende moderne Zivilgesellschaft, begann ihr Ruhm zu verblassen. Dies führte zu einer schleichenden Verunsicherung der Offiziere, die sie durch zackiges Gebaren und martialische Sprüche zu übertünchen suchten, erwartete doch der Oberste Kriegsherr von "seinen" Offizieren die jederzeitige Bereitschaft zum Losschlagen. Das Resultat waren wiederholte Präventivkriegsforderungen des Generalstabs, und eine regelrechte Kriegshetze aus militärischen Kreisen, der sich auch der Jüngere Moltke nicht verschließen konnte. Man redete einen Krieg herbei, von dem man bei nüchterner Betrachtung wusste, dass er in eine Katastrophe münden musste. Hier zeigt sich, dass zentrale historische Entscheidungsprozesse keineswegs einer auch nur subjektiven Zweckrationalität zu unterliegen brauchen.
So kam es im Sommer 1914 zum großen Missverständnis (Julikrise), als Reichskanzler Bethmann Hollweg sich auf die martialischen Versicherungen des Generalstabs verließ, und den großen Krieg riskierte. Bethmann meinte offenbar vom machiavellistischen Intrigenspiel Bismarcks, der während der Julikrise 1870 den Krieg mit Frankreich vom Zaun gebrochen hatte, lernen zu können. Im Juli 1914 sollte es ähnlich laufen.
Mit dem Attentat von Sarajewo schien diese Gelegenheit gekommen zu sein. Entscheidend für Bethmann war, dass fast die gesamte politische und militärische Führung des Reiches im Urlaub war. Bethmann hatte nun die seltene Möglichkeit, auf eigene Faust zu agieren. Das systemtypische polykratische Chaos des Kaiserreiches, welches schnelle Entscheidungen und durchgreifendes Handeln normalerweise verhinderte, war für einige Wochen ausgeschaltet. Als die anderen Entscheidungsträger (u.a. der Kaiser und von Moltke) nach Berlin zurückkehrten, mussten sie zu ihrem großen Erstaunen feststellen, dass der Krieg nur noch unter erheblichem Gesichtsverlust vermieden werden konnte. Beseelt von preußisch-deutschem Ehrgefühl aber auch aus einer gewissen persönlichen Feigheit heraus, waren sie dazu nicht bereit.
Im Mittelpunkt des Projekts stehen die Ambivalenz des Lernens seitens der Militärs und eine Analyse der schichtspezifischen Mentalitäten der Zeit.
Der Entwicklungs- und Entscheidungsprozess in der politischen und militärischen Führung soll als Fallbeispiel behandelt werden. Die merkwürdige Dichotomie zwischen nüchterner Einsicht in den Charakter eines zukünftigen Krieges bei gleichzeitiger Bereitschaft, aus sachfremden Motiven heraus auf eine derartige Kalamität hinzuarbeiten, bedarf einer Erklärung. Für ein besseres Verständnis historischer Abläufe liegt hier womöglich eine wichtige Einsicht vor.
Die Materialrecherche ist weitgehend abgeschlossen. Geplant ist ein knappes Buch, eher ein Essay, der sich auf die Kernargumentation konzentrieren wird.