Antijüdische Ressentiments im Gespräch

Thema des empirischen Forschungsprojekts ist die Kommunikation antijüdischer Ressentiments unter deutschen Durchschnittsbürgern.

Dass antijüdische Ressentiments keineswegs nur in spezifischen Milieus und Randgruppen, sondern auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft, unter Durchschnittsbürgern virulent sind, weiß man aus einer ganzen Reihe von Untersuchungen. Anders jedoch als diese zielt das – qualitative – Forschungsprojekt nicht auf den Verbreitungsgrad antijüdischer Ressentiments in der Bundesrepublik, wie er in entsprechenden repräsentativen Erhebungen, per Fragebogen oder telefonisch, anhand von vorformulierten Survey-Fragen ermittelt wird. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Frage, ob und wenn ja, wie antijüdische Ressentiments von deutschen Durchschnittsbürgern in Gesprächen mit anderen selbst (im Wortsinn) „zur Sprache“ gebracht werden. Genauer: mit welchen selbst gewählten Worten, mit welchen rhetorischen und argumentativen Verfahren und Strategien sie untereinander in Gruppen kommuniziert, wie sie in der Dynamik von interaktiver Rede und Gegenrede möglicherweise gerechtfertigt, beglaubigt, befeuert werden. Oder aber auch, wie sie gegebenenfalls pariert werden, was ihnen entgegengesetzt wird. Gegenstand der Untersuchung sind demnach sowohl Ressentiment-Kommunikation in actu und die dabei generierten Ressentiment-Texturen als auch, komparativ oder kontrastiv dazu, ressentimentfreies oder ressentimentabwehrendes Sprechen über Juden. Die analytische Perspektive ist eine im Wesentlichen subjektorientierte, phänomenologische und hermeneutische.

Empirische Basis sind 32 Gruppendiskussionen und rund 130 Einzelinterviews, die in einem Zeitraum von zwei Jahren in jeweils zwei west- und zwei ostdeutschen Städten mit jeweils vier unterschiedlichen Alters- und Bildungsgruppen durchgeführt wurden. Die insgesamt 16 Gruppen (4 pro Stadt) waren jeweils zusammengesetzt aus (Berufs-)Schülern, FH-Studierenden, Lehrern und Volkshochschul-Besuchern. Die jüngsten unter ihnen, die Schüler, waren zum Zeitpunkt der Erhebung im Schnitt um die 18 Jahre, die Ältesten, die Volkshochschul-Besucher, zwischen 55 und 65 Jahre alt. Die FH-Studierenden und die Lehrer lagen altersmäßig dazwischen. Fast alle Teilnehmer hatten mindestens einen Realschulabschluß, diejenigen in allen anderen Gruppen in aller Regel Abitur oder Fachabitur. Außer bei den Lehrern gab es auch unter den Volkshochschul-Besuchern eine Vielzahl von Teilnehmern mit einer abgeschlossenen akademischen Ausbildung, vom Chemiker über den Geschichtslehrer und die Kunstlehrerin oder die Ingenieurin bis hin zu niedergelassenen Ärzten. Insgesamt waren Männer und Frauen ungefähr gleich stark vertreten. Bis auf wenige Ausnahmen waren alle Teilnehmer indigene Deutsche. Einige wenige (ausschließlich in den westdeutschen Gruppen) sind im Ausland geboren, lebten zum Zeitpunkt der Erhebung aber schon lange Jahre in der Bundesrepublik und waren allesamt deutsche Staatsbürger. In den Studierenden-Gruppen in Ostdeutschland gab es vereinzelt zugezogene Westdeutsche, in denen in Westdeutschland vereinzelt zugezogene Ostdeutsche. Die überwiegende Mehrheit bezeichnete sich als politisch interessiert. Das Spektrum der parteipolitischen Präferenzen der Teilnehmer – in den vorab geführten Einzelinterviews wurde auch die Sonntagsfrage gestellt – reichte von der CDU, der neben der SPD am stärksten favorisierten Partei, bis hin zur Linkspartei; die einzige Ausnahme bildete hier ein (halb-)bekennender NPD-Wähler.

Diskutiert wurden in den 16 Gruppen in jeweils zwei Sitzungen insgesamt sieben vorgegebene Themenfelder zu mehr oder weniger aktuellen politischen Ereignissen und Debatten. Darunter gab es ein Themenfeld „Nahost-Konflikt“ sowie ein Themenfeld „Zuwanderung nach Deutschland“, in dessen Rahmen u.a.  auch die Diskussion über den  Zuzug russisch-jüdischer Kontingentflüchtlinge vorgesehen war. Weitere Vorgaben seitens der Moderation gab es nicht.

Wiewohl lediglich zwei der sieben Themenfelder ein Sprechen über Juden überhaupt explizit nahelegten, stand es in zumeist langen, selbstläufigen und mitunter auch turbulenten Sequenzen oftmals im Mittelpunkt der jeweils anderthalb- bis zweistündigen Doppelsitzungen. Dementsprechend umfangreich und vielschichtig ist auch das empirische Material, das dazu in den Gruppen erhoben werden konnte.

Im Zentrum der nunmehr im Abschluß befindlichen Studie steht die rekonstruktive Interpretation des empirischen Materials und deren komparative Analyse. Diese zielt unter anderem auf die Topik und Rhetorik der beim Sprechen über Juden generierten Texturen, auf die Entfaltung von Deutungs-, Erregungs- und ressentimentgeladenen (Aber-)Glaubensgemeinschaften, auf idealtypisch unterscheidbare Kommunikationstypen – vom Ressentiment-Getriebenen bis hin zum Anti-Antisemiten –, oder auch auf unterschiedliche Ressentiment-Idiome in West- und Ostdeutschland.

Das komparative, gegebenenfalls auch kontrastive Verfahren dient sowohl der Trennschärfe der empirischen Befunde als auch dem Extrapolieren des theoretischen Mehrwert-Potentials, das sie bereithalten: Beispielsweise für eine definitorische Schärfung und Spezifizierung der in der Alltagssprache, aber auch in den Sozialwissenschaften oftmals synonym verwendeten Begriffe Ressentiment und Vorurteil oder, ähnlich, der Termini Stereotyp und Topos, für Fragen nach dem Zusammenspiel von Persistenz und Varianz antijüdischer Ressentiments oder dem von ressentimentgeladenen Judenbildern und kollektiven Selbstdarstellungen.