Freundschaft und Fürsorge
Freundschaft im Wandel?
Im Spannungsfeld des demographischen Wandels, der Transformation des Wohlfahrtsstaats und der Realität des neuen Geschlechterverhältnisses wird die Freundschaft mehr und mehr zu einem Träger sozialer Hoffnungen. Dieser Befund motivierte das Forschungsprojekt "Freundschaft und Fürsorge".
Heutzutage erwarten die Verlassenen von ihren Freunden die verlässliche Nestwärme, die fragile Partnerschaften nur brüchig zur Verfügung stellen, die Einsamen, den horizontartigen Nahraum, den die Verwandtschaftssysteme bei einer Fertilitätsrate von 1,4 nicht erzeugen und die Alten, den Respekt, den ein nur auf Lebenserhaltung abstellendes Wohlfahrtssystem nicht zeigt. Die hohen Erwartungen lassen sich stellvertretend an drei Namen festmachen: Der ehemalige Bremer Bürgermeister Henning Scherf propagiert das Modell der Alten-Wohngemeinschaft, in der sich Freunde zusammefinden um gemeinsam den Lebensabend zu beschließen. Scherf glaubt, dass man nur so der absehbaren Herausforderungen des Pflegenotstands human begegnen kann. Der Sozialforscher Meinhard Miegel meint, dass wir uns zukünftig auf eine Welt einstellen müssen, in der das Immaterielle gegen das Materielle stark gemacht werden muß, weil die Wohlstandsentwicklung in unserer Gesellschaft rückläufig sein wird. Das Immaterielle, das das Leben jenseits der Konsum- und Besitzchancen erfüllen soll, ist dabei nicht zuletzt der Freundeskreis. Der Psychiater Horst Petri, schreibt in einem seiner populären Ratgeber, dass Freundschaft eine Überlebensstrategie im Angesicht knapper und fragiler Bindungen sei.
Aber ist es wirklich alles so einfach mit den "Amis"? Können Freunde tatsächlich all jene Erwartungen erfüllen, denen sie nun ausgesetzt sind? Ist die soziale Komplexität von Freundschaftsnetzwerken nicht möglicherweise ein nahezu unüberwindbares Hindernis? Gelten die meisten Fallstricke des Lebens in flüssigen Zeiten nicht auch für die Freundschaft?
Das Projekt nahm die Erwartungen und Hoffnungen in die "Amitié" zum Anstoß, um nach dem Diskurs über die Freundschaft und nach der Art wie Freunde ihre Freundschaften leben/praktizieren zu fragen. So ließ sich der normative Appell als beantwortbare Frage formulieren und die Verunsicherungen in einen Überblick über das Mögliche verwandeln. Folglich lautete die forschungsleitende Mutmaßung des Projekts, dass sich Freundschaft zusehends von einer losen, in Fragen der Fürsorge redundanten Beziehungsart, zu einer sozial tragfähigen und öffentlich anerkannten Sozialform entwickelt, die spezifische fürsorgliche Leistungen bereitstellt.
(Stand September 2010)
Forschungsdesign/Methoden
Das Projekt "Freundschaft und Fürsorge" setzte auf Methodenpluralismus. Es erfolgten vier methodisch kontrollierten Feldzugänge durch: a) Diskursanalysen von Freundschafts¬ratgebern, b) hermeneutische wie auch inhaltsanalytische Analysen problemzentrierte, biographische Interviews, c) eine Dokumentenstudie des Briefwechsels zwischen Hannah Arend und Mary McCarthy sowie d) statistische Sekundäranalysen repräsentativer Sozialsurveys.
Die 20 ausgewerteten Ratgeber stammten aus zwei verschiedenen Jahrzehnten (1990-1993 u. 2002-2006). An ihnen wurde untersucht, was als Allgemeinwissen über die Freundschaft gelten kann und wie sich die normative Konzeption der Freundschaft seit Anfang der 1990er verändert haben.
Des Weiteren wurden problemzentrierte, biographische Interviews mit 27 Personen aus neun Freundschaftsnetzwerken geführt. Durch vertrauliche, auf zentralen Thematiken fokussierte Gespräche sollte ein Diskurs über die fürsorgliche Praxis unter Freunden mit einen Rückbezug auf die normative Vorstellungswelt der Interviewten erzeugt werden. Die Analyse der Gespräche erlaubte die Rekonstruktion verschiedener Fürsorgemedien in Freundschaften, wie etwa dem Geld, den Taten oder dem Leib.
Die Analyse des Briefwechsels zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy im Zeitraum von 1949-1975 gab Auskunft über die Praxis der vertraulichen Kommunikation in Freundschaften.
Die vierte Informationsquelle, die schrittweise in die Untersuchung einfloss, waren repräsentative statistische Erhebungen, wie etwa das Familiensurvey des DJI (Deutschen Jugend Institut) oder die Studien des ISSP (International Social Survey Programm). Ihre Sekundäranalyse zielte auf die Beantwortung vielfältiger quantitativer Anfragen, beispielsweise nach der Verbreitung freundschaftszentrierter persönlicher Unterstützungsnetzwerke oder der Häufigkeit von Geldtransfers in Freundschaften.
Ergebnisse
Es lassen sich zwei ineinander verschränkte Prozesse beobachten: Zum einen eine Verfreundschaftlichung der sozialen Fürsorge und zum zweiten, quasi auf der Kehrseite, eine Verfürsorglichung der Freundschaft.
Die Verfreundschaftlichung der sozialen Fürsorge kann vor allem in den sozialen Konstruktionen von Paarbeziehungen und - in Ansätzen - von Eltern-Kind-Beziehungen beobachtet werden: Die Semantik der Freundschaft ufert wieder aus, nachdem sie sich kontinuierlich über einige Jahrhunderte auf nicht-sexuelle, nicht-vertragliche und nicht-verwandtschaftliche Beziehungen eingeschränkt hatte. Die Verschiebung lässt sich in dreifacher Hinsicht zeigen: auf der Ebene des institutionellen Rahmens, des öffentlichen Diskurses und der privaten Praktiken.
Der Sozialstaat identifiziert die kleinste, in Sachen subsidärer Fürsorge, ansprechbare soziale Einheit durch die Figur des freien Bundes: Die Bedarfsgemeinschaft definiert sich nicht zuletzt als freier Bund, durch den "wechselseitigen Willen ... füreinander einzustehen", wie es im Gesetzestext heißt (SGB2, §7). Die Bedarfsgemeinschaft liegt damit näher an der Semantik der Freundschaft, als an der der Ehe. Letztere ist historisch gesehen nur akzidentell ein freier Bund, während die Amitié schon immer einer war. Fällt der Blick auf die Ebene des öffentlichen Diskurses zur Freundschaft, erscheint eine isomorphe Konstruktion der Ehe und des Eheähnlichen: Die romantische Zweierbeziehung ist, den gängigen Konzeptionen der Ratgeber folgend, einer Freundschaft ähnlich in der Sex stattfindet. Auch die interviewten Personen äußerten häufig ähnliche Ansichten und/oder lebten in Sozialformen, die genau dem entsprachen. Zur Rechtfertigung ihrer gewählten Lebensform griffen viele Befragte auf die Semantik der Amitié zurück. Wer sich über bestimmte Verhaltensweisen des Partners beklagen oder erklären will, was seine Beziehung zusammenhält, verwendet heutzutage oft Symbolformen aus dem Umfeld der Freundschaft: Die alte Welt der familien- und partnerzentrierten Fürsorge verfreundschaftlicht.
Die zweite Akzentverschiebung betrifft die Sozialform der Freundschaft direkt: Auf der Ebene des normativen Diskurses ist zu konstatieren, dass das öffentlich kommunizierte Ideal der Freundschaft zunehmend verweiblicht. Heute ist die fürsorgliche Freundschaft der Freundinnen und nicht mehr die heroische Freundschaft der bündischen Männer das Maß der gelungenen „Amitié“. Die Feminisierung des Freundschaftsideals führt die Verfürsorglichung der Freundschaft im Gepäck. Freunde und besonders Freundinnen werden heute im öffentlichen Diskurs zunehmend als enge Verschworene und intime Nahpersonen, gelegentlich sogar als lebenslange BegleiterInnen gedacht und nicht mehr so sehr als frivole Bekanntschaften oder als praktische Bündnispartner. Dem veränderten Bild der Freundschaft entspricht die Zunahme der Bedeutung enger, vertrauter, emotional aufgeladener Freundschaften auf der Ebene der Praxis. Aus dem Familiensurvey des DJI geht hervor, dass immer mehr Menschen zwischen 18 und 55 Jahren in Deutschland mindestens einen Freund oder eine Freundin haben mit der/dem sie wichtige Dinge besprechen oder an den/die sie sich emotional gebunden fühlen. Zu einem "ordentlichen" persönlichen Unterstützungsnetzwerk gehört heute demnach mindestens eine enge, intime Freundschaft. Die Freundschaft verfürsorglicht zunehmend.
Erlauben die Befunde der zunehmend fürsorglichen Freundschaft und zusehends "freundschaftlicheren" Fürsorge die Aussage, dass die eingangs formulierten Erwartungen und Hoffnungen, die in Freundschaften gesetzt werden, berechtigt sind? Die Ergebnisse der vorliegenden Studie geben einigen Anlass zu Skepsis. Die „Amitié“ ist - verglichen mit den bisherigen Methoden die Fürsorge über Familie, Partnerschaft und Sozialstaat zu organisieren - die anspruchsvollere Option. Das Leben im Kreis der Freunde ist nicht einfacher als in der Ehe, nicht belastungsärmer als in der Familie und nicht sicherer als unter der Fuchtel eines zunehmend paternalistischen Sozialstaats. Im Gegenteil, es erfordert eine komplizierte Logistik, die Fähigkeit Ambivalenzen und Einseitigkeiten zu tolerieren sowie eine Akzeptanz für ein Leben ohne soziale Endstation.
Was also ist möglich, wenn man die Messlatte der gängigen fürsorglichen Praxis in Freundschaften anlegt? Durchschnittlich realisierbar scheinen - gemessen an den üblichen fürsorglichen Praktiken unter Freunden - freundschaftszentrierte Lebensformen, die durch multiple Redundanzen praktische Unterstützungsleistungen, emotionale Geborgenheit und ein bestimmtes Maß an finanzieller Abstützung ermöglichen. Die fundamentale Voraussetzung für ein solches Leben im Kreis der Freunde wird jedoch, bis auf weiteres, die Fähigkeit zur Selbstsorge - im Sinne der Sorge um den eigenen Leib - bleiben.