Charisma in der degradierten Stadt
Das Promotionsprojekt knüpft an das vom BMBF finanzierten Projekt "Charisma und Miseria" (2007-2010) an und stellt die Erkenntnisse der Studie in einen gemeindesoziologischen Zusammenhang. Das Ziel der Arbeit ist damit, soziologische Stadtforschung um die Perspektive des Charismas in schrumpfenden Städten zu erweitern.
Drei Jahre wurde eine ostdeutsche Stadt beforscht, deren Bewohner_innen durch radikale gesellschaftliche wie wirtschaftliche und politische Umbrüche mit Abkopplungserfahrungen und Ausgrenzungsängsten konfrontiert sind. Die Stadt ist auf dramatische Weise von den typischen Charakteristiken wie Abwanderung, Leerstand, Arbeitslosigkeit und Transfereinkommen gekennzeichnet, die sämtlichen, in jüngster Zeit beforschten, schrumpfenden Städte gemein sind: In den letzten 20 Jahren verlor sie ein Drittel ihrer Bevölkerung, die Erfahrung von Arbeitslosigkeit und der Bezug von Transfereinkommen gehören bei 30% der Bewohner_innen zum Alltag. Angesichts zahlreicher städtischer Schrumpfungsschicksale in Ost und West ist inzwischen ein ganzer Forschungszweig zur Stadtschrumpfung in Europa entstanden, der sich parallel neben der Exklusions- und Prekarisierungsforschung zur Erforschung von Degradierungsphänomenen etabliert hat.
Erkenntnisse über Formen der Sozialität in einer schrumpfenden Stadt wurden bisher selten in der Stadtforschung berücksichtigt. In der Dissertation wird der These nachgegangen, dass durch die Degradierungserfahrungen, die den Alltag in einer schrumpfenden Stadt kennzeichnen, verstärkt auf Charisma als eine Form der Mobilisierung sozialer Beziehungen zurückgegriffen wird (Weber). Der Charisma-Ansatz ermöglicht eine Analyse der Verschränkung von individuellen Mobilisierungs- und Bindungsmustern einzelner Akteur_innen mit ihrer Verortung im räumlichen und politischen (Macht-)Gefüge der schrumpfenden Stadt, und zwar jenseits gängiger so genannter akteurszentrierter Paradigmen der Stadtforschung. Das den Akteur_innen zugeschriebene und von ihnen eingesetzte Charisma erklärt gesellschaftliche Prozesse aus einer Perspektive, die die klassisch distanzierte Expert_innenrolle von städtischen Akteur_innen dekonstruiert und die irrationale und emotionale Komponente von Machtproduktionen hervorhebt.
Die Arbeit nimmt eine verstehende Perspektive ein, die Sinnkonstruktionen, biographische Horizonte und Handlungsmuster von Akteur_innen in der schrumpfenden Stadt nachvollzieht: Welche Praktiken, welche Konzepte verhelfen Akteur_innen in Schrumpfungsprozessen zu charismatischer Macht? Mit welchen Deutungsmustern mobilisieren Charismatiker_innen ihre Gefolgschaft in einer Situation, die von Verlust, Verfall und Überlebenskampf gekennzeichnet ist? Welche charismatischen Bindungsformen lassen sich finden? Wie spiegelt sich der Einsatz von Charisma in einem städtischen (Macht)Raum wieder? Quer zu diesen forschungsleitenden Fragen wird berücksichtigt, welche Relevanz Geschlecht für die charismatischen Mobilisierungs- und Bindungsmuster der Akteur_innen hat.
Als empirische Datenquelle stehen qualitative, leitfadengestützte Interviews und Beobachtungsprotokolle der teilnehmenden Beobachtungen zur Verfügung, die während der Feldforschung entstanden sind. Sie wurden hermeneutisch ausgewertet. Das Ziel der Auswertung ist es, die mobilisierenden und bindenden Praktiken der charismatischen Akteur_innen in der Situation kollektiver Degradierung zu rekonstruieren und in Bezug auf die Stadt zu typisieren. Mithilfe der Darstellungsform des soziologischen Porträts rücken individuelle Sinnkonstruktionen und Handlungsmuster der Akteur_innen in den Fokus der Auswertung. Durch den kontrastierenden Fallvergleich können typische charismatische Mobilisierungs- und Bindungsmuster aufgezeigt werden, die in der degradierten Stadt von Relevanz sind und den Stadt(macht)raum konstituieren und reproduzieren.
(Stand November 2010)