Charisma und Miseria. Die Gründung des Sozialen in Überlebensgesellschaften

Das Forschungsprojekt wurde von Oktober 2007 – Juli 2010 durchgeführt und war Teil eines vom Bundesforschungsministerium geförderten Verbundprojektes "Social Capital im Umbruch europäischer Gesellschaften". An dem Gesamtvorhaben waren neben dem Hamburger Institut für Sozialforschung die Universität Kassel, die Humboldt Universität zu Berlin, das Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS), das Thünen-Institut Bollewieck sowie das Maxim Gorki Theater Berlin beteiligt.

Ausgangsprämissen, Fragestellung und Methoden

Mit Hilfe qualitativer Sozialforschung fragte das Projekt: "Charisma und Miseria"  in Feldstudien nach den charismatischen Akteuren, die sich in Situationen des Umbruchs und der Unsicherheit als Heilsbringer oder Hoffnungsträger bewähren und eine herausgehobene Position einnehmen.

Gesellschaftlicher Umbruch äußert sich in räumlichen und sozialstrukturellen Umwälzungen, die eine umfassende Reorganisation individueller Lebensweisen und institutioneller Rahmenbedingungen erfordern. Charisma ist eine mit Krise verbundene Kategorie in der soziologischen Forschung. Schon bei Max Weber finden wir die Annahme, dass Menschen in unsicheren gesellschaftlichen Umbruchs- oder Krisensituationen verstärkt auf außeralltägliche, charismatische Lösungen zurückgreifen. Für das Projekt erwies sich die Auffassung von Popitz, dass charismatische Akteure als "Normsetzer" fungieren als hilfreich. Auf die Akteure bezogen, stellte sich nämlich die Frage, mit welchen Strategien sie in Umbruchsituationen die Normsetzung zu erreichen versuchen bzw. welche Strategien von den potenziellen Gefolgsleuten aufgegriffen werden. Zu Beginn des Projekts gab es nur eine vage Vorstellung von dem, was Charisma sein und was es mit dem Überleben zu tun haben könnte: Eine gute Voraussetzung für explorative, qualitative Forschung. Mit dem Begriff Charisma wird nach den Vorgaben der Grounded Theory mit der Unschärfe des Begriffs operiert, d.h. das "unruhige Kursieren" (Bude) zwischen dem theoretischen Begriff und seinen empirischen Möglichkeiten in der Überlebensgesellschaft wird produktiv in eine während der Feldforschung entstandene Suchstrategie gewendet.

Das Augenmerk galt folgenden zentralen Fragen: Wer sind die Akteure, die vorangehen auf der Suche nach neuen Perspektiven? Wer sind die Charismatiker des Aufbruchs oder der Stagnation, wenn soziale Gewissheiten und Sicherheiten verloren gehen? Welche charismatischen Strategien zur Würdegenerierung kämpfen in der Überlebensgesellschaft um eine Wegweisung?

In Anlehnung an die "fokussierte Ethnographie" (Knoblauch) wurde eine qualitative Erhebung durchgeführt. Um maximale Vergleichs- und Kontrastierungsmöglichkeiten (Glaser und Strauss) zu haben, erfolgte die Untersuchung an zwei Hauptforschungsorten. Dies war mit einer Vielzahl von Forschungsaufenthalten verbunden, die sich über einen langen Zeitraum erstreckten. Insgesamt wurden 53 qualitative Interviews geführt und Beobachtungsprotokolle - sowohl nichtteilnehmender strukturierter als auch teilnehmender unstrukturierter Beobachtungen – erstellt.

Der eine Ort ist eine ehemals bedeutende Industriestadt in Brandenburg, Wittenberge, die massiv von den Umstrukturierungen nach der Wende von 1989 betroffen war und die mit hoher Arbeitslosigkeit, Abwanderung und Überalterung zu kämpfen hatte. Der andere Ort ist Victoria, eine ehemalige sozialistische Vorzeigestadt und Zentrum der chemischen Industrie in Rumänien, am Fuße der Südkarparten. Obwohl es zwischen ihnen große Unterschiede bezüglich der Stadt-, Industrie- und Sozialgeschichte gibt, weisen beide Orte wichtige Gemeinsamkeiten für die Fragestellungen des Projekts auf. Beide Orte wurden rasant vom "doppelten Umbruch" (Land) aus Systemtransformation einerseits und postindustriellem Wirtschaftsumbruch andererseits erfasst. Beide werden von den Narrationen der glorreichen Industriezeit beherrscht. Der Verlust der traditionellen Arbeitsplätze und vor allem der Bedeutungsverlust durch die Deindustrialisierung haben sich als kollektive Traumata in die Alltagswelt der Bewohner beider Städte eingeschrieben bzw. führten zu einer ähnlichen Degradierungserfahrung. Dabei greifen die Bewohner auf unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Verlusterfahrung zurück. Während die ostdeutschen Bewohner versuchen, ihren ehemals durch industrielle Strukturen bestimmten Alltag aufrecht zu erhalten oder ihm neue Bedeutung beizumessen, profiliert sich das deindustrialisierte Victoria als neues Zentrum der rumänischen Orthodoxie.

(Stand November 2010)

Erkenntnisse aus beiden Forschungsorten

In der Rekonstruktion der geschichtlichen Deutungen konnte gezeigt werden, dass die Überlebensgesellschaft durch eine kollektive Degradierungserfahrung geprägt ist, in der bestimmte Alltagspraxen akzentuiert und verstärkt nachgefragt werden. Charisma erweist sich in beiden Forschungsorten als eine Überbetonung der Gründung von Sozialem. Dies lässt gleichsam den Umkehrschluss zu, dass die emotional betonte Gründung des Sozialen eine verstärkt nachgefragte Antwort auf die Überlebenssituation ist. Als die zentrale charismatische Überlebenspraktik erweist sich in Wittenberge und in Victoria die Geste der Übertreibung. Dazu gehört auch die wirtschaftliche, kulturelle und politische Dominanz, die sich in symbolischen und monopolistischen Raumaneignungspraktiken äußert.

Alle porträtierten Charismatiker erweisen sich als ambivalente Akteure. Sie vereinnahmen bestimmte symbolische Räume und schaffen Grenzziehungen für die Identität von sozialen Wir-Gruppen, andererseits spalten sie die Gemeinschaft vor Ort in kleinere Gruppen.

Besonders interessant für den Vergleich maximaler Kontrastierung ist das Ergebnis eines Charisma-Typus im wirtschaftlichen Feld, der in beiden Orten gleichsam an die Stelle der Politik der großen Gesten getreten ist. In Wittenberge und Victoria sind es die Wirtschaftsakteure, die als Heilbringer gefeiert werden und sich ähnlicher Mittel und symbolischen Praktiken bedienen. Der wirtschaftliche Charismatiker (im Überlebenskontext) propagiert sein Expansionsbestreben als moralische Verantwortungsübernahme zu Zwecken der Regionalentwicklung. Seine übertrieben betonte Heimatverbundenheit dient der Herstellung charismatischer Behauptung. Die moralisch unterfütterte Legitimation des Expandierens wird deshalb hervorgehoben, weil er so die antidemokratischen und monopolitischen Methoden der Machtausübung verschleiern kann. Der Charismatiker im wirtschaftlichen Feld profitiert von der Schwäche des Vertrauens der Bevölkerung in die Politik. Er spinnt seine informellen Netzwerke und kann so als allgegenwärtiger Akteur vor Ort handeln. Dabei ist er dennoch auf die Wir-Gruppen-Stiftung des politischen Charismatikers angewiesen: Die Charismatiker in beiden Forschungsorten unterstützen sich gegenseitig; sie bilden eine charismatische Figuration. Anders als im theoretischen Diskurs angenommen sucht die moderne Überlebensgesellschaft nicht nach "dem einen" charismatischen Anführer, sondern orientiert sich an einem charismatischen Feld. 

Der Einsatz von Charisma verstärkt eine über symbolisches Kapital hergestellte Bindungslogik. Soziale Netzwerke, die durch dieses Charisma entstehen, beruhen auf Informalität und persönlicher Abhängigkeit – sie begünstigen eher vorindustrielle Patronageverhältnisse als die Konsolidierung demokratischer Strukturen. Das Postindustrielle erscheint in der Überlebensgesellschaft somit in übertriebener Weise als vorindustriell. Das Soziale tritt zwar stärker in den Vordergrund, auch im ökonomischen und politischen Feld, aber es ist die ambivalente Sozialität des verantwortungsbewussten Kümmerns einerseits und der neofeudalen Abhängigkeit andererseits. Im Handeln der Charismatiker selbst drückt sich diese Ambivalenz durch das Abschöpfen öffentlicher Gelder für eigene Projekte bei gleichzeitiger Ablehnung des staatlichen Eingreifens in die unternehmerische Souveränität oder sogar bei gleichzeitiger Abwertung staatlicher Strukturen aus.

Für das politische Feld haben wir zwei Akteure porträtiert, die für unterschiedliche politische Generationen und Führungsstile stehen. Der Mut zum Dilettantismus und das Einlassen auf unvorhergesehenen Situationen ziehen sich wie ein roter Faden durch alle dargestellten charismatischen Aufstiegswege. Die Charismatiker werden durch ihre Flexibilität und Risikofreudigkeit zu Projektionsflächen für (wichtige) Erwartungen vor Ort, nämlich wie man aus der Not eine Tugend macht. Sie bewähren sich als Wegweiser einer Avantgarde des Prekären. Gerade darin besteht ihre Anziehungskraft. Sie verkörpern die Sehnsüchte derer, die die Überlebenssituation in ihr Gegenteil zu wenden erträumen, indem Prekarität erfolgreich beherrscht wird. Gleichzeitig wird durch dieses Charisma die degradierte Stadt aufgewertet, denn die Beherrscher der Prekarität sind es, die die Situation aus Armut und Schrumpfung umdeuten - in eine Situation der Herausforderung und der kreativen Lösungen.

Die Bewährung der Charismatiker in der Überlebensgesellschaft ist eng verknüpft mit der Mobilisierung von Ressentiments. Ressentiments werden auf Kosten des Staates in Schicksalsgemeinschaften diskursiv konstruiert. Sie sind durch eine Entkopplung von einer vorgestellten staatlichen Mehrheits- oder Nationalkultur gekennzeichnet. Die charismatische Erwartung in der Überlebensgesellschaft ist an die Aktualisierung anti-staatlicher Ressentiments gekoppelt. Die Funktionsweise staatlicher Institutionen wird von den Charismatikern angeprangert, in Frage gestellt oder als verschwenderisch entlarvt. Die Ressentimentstruktur, von der die Charismatiker profitieren, ist erstaunlicherweise gerade durch eine Situation der eigenen Angewiesenheit und Abhängigkeit von öffentlichen Institutionen und Mitteln gekennzeichnet – in Form der direkten Abhängigkeit als Angestellte, als Mittelempfänger oder als profitierende Unternehmer. Die Charismatiker profilieren sich als Umverteiler staatlicher Gelder zugunsten der Stadt, mit Vorliebe unter dem Aspekt der Heimathilfe. Sie dienen als Übertreiber einer Norm, die sich in der Überlebensgesellschaft etabliert. Es gilt um jeden Preis staatliche Mittel zu erlangen. Dabei sind Grenzüberschreitung und Übertreibung der charismatische Einsatz in der Überlebensgesellschaft, sei es in der Übertreibung einer Bindungslogik, einer Mittelabschöpfung oder der Heimatverbundenheit. Zuspitzung und Übertreibung bestimmter Praktiken ist allen charismatischen Akteuren gemeinsam.

Das durch Charisma gegründete Soziale erschöpft sich demnach weder in "Vertrauen, Normen und Netzwerken" (Putnam) noch in machtvollen Beziehungseffekten (Bourdieu). Es stellt eine ambivalente Ressource dar, die für die kollektive Würdegenerierung einerseits und für die Erzeugung exklusiver Wir-Gruppen andererseits benutzt wird.

Es zeigt sich, dass der Begriff des Sozialkapitals wenig aussagekräftig ist, wenn von charismatischen Akteuren ausgegangen wird. Sie nämlich schaffen eine paternalistische Klientelwirtschaft, die auf informellen Netzwerken basiert und gleichzeitig generieren sie durch ihre Aneignung symbolischer Räume bzw. Mythen die für jede Gesellschaft überlebenswichtige kollektive Würde. Das Soziale wird in der Überlebensgesellschaft gestärkt, es kann weder eingeschränkt auf Vertrauen noch auf Beziehungen betrachtet werden, sondern muss in seiner umfassenden, ambivalenten Wirkung begriffen werden, die mithilfe des Charisma-Begriffes erläutert wurde.

(Erkenntnisse aus) Wittenberge:

Übertreibung und die charismatische Konstruktion "unversehrter" Räume

In der ostdeutschen Kleinstadt treten Akteure in Erscheinung, die Charisma über den Einsatz von Übertreibungen erzeugen. Aufsteiger, die ihren Aufstiegskampf als übertrieben verlustreich inszenieren, dienen als charismatische Projektionsfiguren, aber auch wirtschaftlich Erfolgreiche, die durch übertriebenes Gewinnstreben staatliche Gelder abschöpfen oder berufliche Grenzgänger, die hobbyistische Extravaganzen pflegen.

1. Der politische Charismatiker zeichnet sich durch eine extreme Bindungslogik aus: Er verspricht das ersehnte, umfassende "Wir" in der Stadt. Mit dem mobilisierten "Wir" imaginiert er eine Zukunft, die mit der Konstruktion von überdimensionaler Größe zwar aufgeräumt, aber nicht abgeschlossen hat. Repräsentiert wird eine neue Bürgerlichkeit, die die prekären GrenzgängerInnen einschließt, aber die "Überflüssigen" ausgrenzt. Auf deren Kosten werden zwar staatliche Fördermittel abgeschöpft, jedoch werden die Gelder dafür eingesetzt, Überflüssigsein zu verunsichtbaren.

2. Innerhalb dieser Logik agiert auch der unternehmerische Charismatiker, der exemplarisch für übertriebene Wachstumsversprechen steht. Er verkündet die ökonomische und symbolische Unterstützung von Stadt und Region, und so werden dem unternehmerischen Charismatiker in der Überlebensgesellschaft von niemandem Grenzen gesetzt: Er kann sich den öffentlichen Raum, öffentliche Mittel und symbolische Orte aneignen, ohne aber eine "neue Zeitrechnung" bereitzuhalten wie es der politische Charismatiker vermag. Allerdings wird durch die ausgleichende Bereitstellung von Ressourcen für die Stadt die Vertiefung anti-staatlicher Ressentiments zugunsten von charismatischen Interventionen legitimiert. Die übertriebene Zuspitzung von Demokratiefeindlichkeit und Heimatliebe stellt sich im ökonomischen Feld der Überlebensgesellschaft als Triebfeder charismatischer Mobilisierung dar. 

3. Der charismatische Verwalter des industriellen Erbes öffnet die Zukunft für die Stadt mit seiner Herrschaft über die DDR-Symbole: Indem er die Stadt als Filmkulisse vermarktet, macht er aus der Not eine Tugend; eine Strategie, mit der er auch als Verwalter einen einstigen Industriebetrieb für die Anforderungen einer postindustriellen Wirtschaft rüstet.

4. Postindustriell ausgerichtet ist auch die Strategie der ökologischen Charismatikerin, der einzigen porträtierten Frau. Im Gegensatz zu den anderen Charismatikern steht sie für die ökologische, nachhaltige Entwicklung in Stadt und Region. Sie sieht sich auf der Seite der AussteigerInnen, aber bietet sowohl den Alteingesessenen als auch den Großstadtflüchtlingen die Perspektive eines modernen Naturschutzes, der alle Interessen vereinen soll. Es zeigt sich, dass es unterschiedliche charismatische Erwartungen gibt, die an Männer und Frauen gestellt werden. Die geschlechtsspezifische Codierung von Charisma hat dazu geführt, dass männliche Akteure weitaus öfter die als charismatisch attribuierten Werte verkörpern als Frauen – und Frauen in unserem Sample dennoch stärker für ein rebellisches Charisma und für das ‚genuin‘ Neue stehen.

Abschließend ist festzuhalten, dass Charisma keine geschlechtslose Konstruktion ist, sondern in der Forschung beinah ausnahmslos an Männern exemplifiziert wird und somit ein Überhang an Praktiken, die Männern zugeschrieben werden (wie z.B. Risikofreudigkeit, mutiges Vorangehen, Einzelkämpfertum etc.) in Bezug auf Charisma benutzt wurde.

Neben dem Einsatz der Übertreibung ist allen Akteuren die Aneignung symbolischer Räume als Effekt ihres Charismas gemeinsam. In der Aneignung von (symbolischen,) erinnerungsrelevanten Stadträumen konstruieren die Charismatiker Wir-Gruppen, die eine soziale Einbeziehung in die Stadt als sozialen Raum imaginieren: Der politische Charismatiker über die Logik der historischen Raumaneignung und der Heraushebung der gewachsenen Vielfalt, die er letztendlich zu bündeln verspricht; der unternehmerische Charismatiker über die Logik der emotionalen Raumaneignung durch den Heimatbezug, mit dem er mobilisiert sowie als Aneigner des post-industriellen Stadtraums durch ökonomisches Kapital; der Verwalter des industriellen Erbes durch die symbolische Besetzung des Erinnerungsraums und die Öko-Pionierin in der Aneignung eines ökologischen Naturraums.

Die Charismatiker eignen sich einen imaginativ ‚heilen‘, ganzen Raum an, auf den sie zukunftsweisend Bezug nehmen können. Die Vermittlung von der Unversehrtheit eines ‚heilen‘ Raumes dient den Charismatikern als symbolisches Kapital, mit dem sie charismatische Sozialität stiften. Letztendlich greift diese Stiftung des Sozialen die herrschende Erwartung in der Überlebensgesellschaft auf, die die Charismatiker bedienen. Ihre Wir-Gruppen-Konstruktionen entsprechen dem charismatischen Bedarf der Bevölkerung nach "Heilung" im Sinne der Herstellung von Unversehrtheit. Doch das Soziale stellt sich als ambivalente Sozialität heraus. Basierend auf persönlichen, emotionalen Abhängigkeiten sowie der Exklusivität der Wir-Gruppen wird die Stiftung von Sozialität, die sich als entscheidende Ressource in der Überlebensgesellschaft herausstellt, zu einer ambivalenten Taktik der Übertreibung zur Doppelbödigkeit, denn sie produziert Ausgrenzung.

(Erkenntnisse aus) Victoria:

Mythen als symbolisches Kapital des Charismatikers

Die Untersuchung der rumänischen Kleinstadt zeigt, dass das Rekurrieren auf bestimmte lokale Alltagsmythen ein wichtiges symbolisches Kapital für die Herstellung charismatischer Macht darstellt. Der Bezug auf die vorherrschenden kollektiven Werte oder tradierten Erwartungs- und Denkmuster, die den Mythen inne wohnen, erlaubt es den Charismatikern bestimmte soziale Räume einer Gemeinschaft diskursiv (neu) zu besetzen bzw. abzugrenzen. Diese charismatischen Akteure werden zu Hoffnungsträgern für einen Teil der Gemeinschaft vor Ort. Gerade weil Mythen flexible und umwandelbare symbolische Konstrukte darstellen, erfreuen sie sich im Überlebenskontext – einer Situation, die mit vielen kollektiven Umdeutungsprozessen einhergeht – einer großen Beliebtheit. In dem symbolischen Kampf um das gesellschaftliche Überleben, dienen die, durch die Mythen erfassten (’verzauberten’) Objekte – ob gesellschaftliche Diskurse, Werte, Alltagspraxen, wichtige Orte oder Gebäude – als eine optimale Grundlage für neue Botschaften aber auch für die Herausbildung neuer diskursiver Grenzen, sozialer Mobilisierung und neuer normativer Vorstellungen. Für die charismatischen Machtakteure, mit ihrer Tendenz zu emotional überbetonten Botschaften und übertriebenem Machtanspruch (sprich: Dominanz), stellen Mythisierung- und Re-Mythisierungsprozesse eine wichtige Überlebenspraxis dar. Die charismatischen Figuren werden selbst zum Ausdruck und zur Projektionsfläche bestimmter kollektiver Sehnsüchte und Anerkennungskämpfe der Gemeinschaft vor Ort.

1. Der politische Charismatiker zeigt, wie die Profilierung auf die Rolle des Bewahrers des industriellen Traums (Wohlstand, Arbeit und Stabilität) als langjährige politische Überlebenspraxis dienen kann. Mit dem Bezug auf den Industrie-Mythos, der Vortäuschung seiner Selbstopferung für das politische Amt sowie der Schaffung einer Schicksalsgemeinschaft mobilisiert er vor allem die von den gesellschaftlichen Änderungen enttäuschten und veränderungsresistenten Bewohner der Stadt (d.h. die schwer integrierbaren Langzeitarbeitlosen und die Menschen im Rentenalter). Diese Bindungslogik durch die Mythisierung der industriellen Vergangenheit der Stadt ist nicht nur in Victoria zu erkennen. Die realen sozialen Konsequenzen einer solchen Politik sind ein Rückfall in eine Ressentimentkultur und soziale Stagnation. Der Übergang zu demokratischen Regierungsstrukturen und die Herausbildung einer Zivilgesellschaft wurden faktisch jahrelang hinausgezögert. Das Einzelkämpfer-Dasein war das Alibi für eine intransparente Politik, die Vettern- und Klientelwirtschaft begünstigte. Im politischen Feld scheint dieses Handlungsmuster mittlerweile ausgedient zu haben; an seine Stelle ist ein eher technokratischer und vermittelnder Führungstypus getreten, wie er für Wittenberge porträtiert wurde.

2. Der unternehmerische Charismatiker zeigt, dass die Umkehrung des industriellen Wohlstandstraums als Basis für die eigene charismatische Machtbewährung dienen kann. Mit einem überbetonten antisozialistischen Diskurs stellt er sich selbst als neue wegweisende Figur der postkommunistischen Zeit ins Rampenlicht, als Vorreiter der Konsumgesellschaft und Einführer bürgerlicher Werte (Luxus, in dem Fall) vor Ort. Der Typus des lokal dominierenden Geschäftsmannes, der sein Ansehen auf amerikanische Wirtschaftsmythen ("Vom Tellerwäscher zum Millionär"), Heimatverbundenheit und übertriebenen Umgang mit Risikofreudigkeit aufbaut, ist ähnlich auch in Wittenberge zu finden. Der Handlungsraum dieser Akteure ist monopolistisch strukturiert und geht in seiner Dominanz weit über das Wirtschaftliche hinaus. Die Stadt selbst sieht sich ihrer Macht zeitweillig hilflos ausgeliefert.

3. Ein weiterer mächtiger sozialer/charismatischer Akteur in Victoria ist der Priester, der religiöse Charismatiker. Er wandelte einen wichtigen Trend der postkommunistischen Gesellschaft in Rumänien – die Wiederbelebung der religiösen Lebensführung – zu seiner charismatischen Machtstrategie um. Er setzte sich für den Bau der ersten orthodoxen Kirchen in Victoria ein und initiierte ein mittlerweile populär gewordenes ökumenisches Musikfest. Dadurch machte er sich zum medial wirksamen "Botschafter" der ehemaligen sozialistischen Vorzeigestadt. Mit dem Bau der Kirchen gelang es ihm, in den Augen der großen Mehrheit der Bevölkerung, die er emotional an sich binden und mobilisieren konnte, der vormals als "gottlos" stigmatisierten Stadt Würde zurück zu geben. In der Außendarstellung machte er die  verarmte Stadt zu einem Vorreiter der orthodoxen Traditionsbewahrung. Wie bei anderen charismatischen Machthabern lässt sich auch bei ihm ein Hang zu großformatigen Plänen und Gesten erkennen, der mit einem dominanten und undemokratischen Machtstil einhergeht. Auch er nutzt das Mittel der Übertreibung, setzt mit mutigem und kreativem Dilettantismus seine Pläne durch und macht das Mystische und Außeralltägliche alltagstauglich – d.h. populär, medienwirksam und für eine Gefolgschaft greifbar.

Weitere Informationen

Zweites Forum Theater und Wissenschaft in Wittenberge, 1. und 2. Oktober

Projektverbund "Social Capital" im Umbruch europäischer Gesellschaften – Communities, Familien, Generationen
zur Website
ueberlebenimumbruch.de


Kontakt:
Projektbüro Wittenberge, Bahnstraße 61, 19233 Wittenberge
Telefon: 03877.6000066, E-Mail: ueberleben(at)thuenen-institut.de