Biographische Konstruktionen des Nationalen
(Stand März 2002)
Im Projekt wird nach der subjektiven Seite der plötzlichen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse gefragt, die Jugoslawien zu Ende der 80er Jahre erfaßten. Es waren Entwicklungen, mit denen niemand gerechnet hatte. Die starken Renationaliseriungsprozesse als Reaktion zwangen jeden, Stellung zu beziehen. Die veränderte Welt brauchte neue Deutungen, die sich häufig nach dem bekannten Muster der Überbewertung der Eigengruppe vollzogen.
25 Gespräche, die mit ehemaligen Soldaten und Kriegern, Teilnehmern aller Seiten des bosnischen Krieges 1995, geführt wurden, bilden die Grundlage dafür, sich empirisch den Reaktionen, Überzeugungen und Interpretationen einiger Beteiligter an den Kriegen zu nähern. Die Rekonstruktion dieser Erfahrungsperspektive wird eingebettet in die Interpretation aktueller zeitgenössischer Deutungen des Konfliktes unter Heranziehung militärwissenschaftlicher Quellen, nichtwissenschaftlicher Dokumentationen wie Memoiren, aber auch publizistischen Texten von Kriegsteilnehmern. Feindbilder und Gewalterfahrung werden zum Medium der Strukturierung biographischer Erfahrungen. Im Zusammenhang der spezifischen Konstruktion der Nation als gefährdeter entsteht eine Verteidigungsidentität, die, so läßt sich anhand der Interviews zeigen, als traumatisches (Erweckungs-)Erlebnis, als kriminelle Tat der anderen und als gleichzeitiger Prozeß der Herstellung und Verteidigung des eigenen Territoriums und der eigenen Gruppe interpretiert werden können. Gerade das Selbstbild der Krieger ist von meist kollektiven Mythen abhängig. Die Ereignisse, ihre Deutung und Reinterpretation im Zusammenhang kollektiver Mythen, der Gebrauch dieser Muster zur Rechtfertigung der eigenen Handlungen und die Notwendigkeit, an ihnen auch im Nachhinein festzuhalten, um sich seine eigenen Handlungen verständlich zu machen, zeigen, wie die Gruppenzugehörigkeit im Verlaufe des Krieges eine existentielle Bedeutung erhält.