Die Herstellung und Veränderung souveräner Kreditwürdigkeit in der Eurokrise
Staatsschulden sind besondere Schulden. Als “sichere Häfen” stellen Staatsanleihen eine wichtige Bezugsgröße für Finanzgeschäfte dar und bieten Investor*innen Rückzugsräume; sie spielen also eine systemische Rolle. Eine höhere Staatsverschuldung kann deswegen zur Stabilität des Finanzsystems beitragen, genauso wie eine Unterversorgung den Privatsektor zu Anpassungsprozessen zwingen kann.
Die Wahrnehmung staatlicher Kreditwürdigkeit kann sich dabei weniger auf quantifizierte Zeitreihen und Wahrscheinlichkeitsmathematik stützen. Bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit souveräner Schuldner geht es nicht um die Risikoberechnung einer einzelnen Investition oder einer Geschäftsidee, sondern um das Abschätzen politischer Bereitschaft zur Einhaltung von Zahlungsversprechen, das Abwägen institutioneller und kultureller Bedingungen parlamentarischer und administrativer Handlungsfähigkeit und damit auch grundlegender Ideen souveräner Staatlichkeit.
Dies resultiert aus der staatlichen Solvenz selbst, welche eher als komplexer soziopolitischer Herstellungsprozess denn als ein ökonomischer Zustand zu verstehen ist. Er wird beeinflusst durch die Dynamiken des globalen Geldsystems, institutionelle Gefüge in Mehrebenenstrukturen, wirtschafts- und geldpolitische Diskurskonjunkturen und nicht zuletzt (demokratische) Willensbildungsprozesse. Mit dem Wandel der soziopolitischen und politökonomischen Produktion der Glaubhaftigkeit und des Glaubens an diese Solvenz – d.h. die Konstruktion souveräner Kreditwürdigkeit – will sich dieses Projekt beschäftigen.
Der supranationale Raum der Europäischen Währungsunion stellt in dieser Hinsicht einen besonders interessanten Kontext dar. Die Zusammenlegung nationaler Geldordnungen und der daraus resultierende Verlust monetärer Handlungsfähigkeiten haben auch Folgen für die Konstitution staatlicher Kreditwürdigkeit. Die Mitgliedsstaaten der Währungsunion müssen ihre Schulden ähnlich wie private Unternehmen vollständig über die Finanzmärkte finanzieren und stehen auf den Geldmärkten in einem Wettbewerb um die Anerkennung ihrer Kreditwürdigkeit.
Das Projekt leitet die konzeptuelle Vermutung, dass die soziopolitische Herstellung staatlicher Kreditwürdigkeit und Zahlungsfähigkeit besser zu verstehen ist, wenn man sie als Teil der polit-ökonomischen Auseinandersetzungen um die Produktion von Geld betrachtet. Staatsschulden werden hier also nicht im Sinne haushaltspolitischer Finanzierungsfragen oder als Streitfall intergenerationaler Ethik thematisiert, sondern als sich wandelnde Funktionselemente moderner Geldordnungen.
Kredittheoretische Zugänge zu Analysen geldwirtschaftlicher Dynamiken weisen darauf hin, dass die Stabilität der Geldproduktion letztlich von der Fähigkeit des Staates abhängt, seine Solvenz gegenüber anderen Akteuren und (Interessen-)Gruppen zu begründen; funktionierende Arrangements der Kreditwürdigkeit eines Staates und deren Rolle in der Geldproduktion spiegeln deswegen Machtkonstellationen zwischen Staaten, kapitalistischen Investor*innen und steuerpflichtigen Produzent*innen und Arbeiter*innen wider. Aus dieser Sicht stellen Krisen staatlicher Zahlungsfähigkeit ein Scheitern dieser Konstellationen der Geldherstellung dar und werfen grundsätzliche Fragen über die monetären Ordnungen auf, in denen sie auftreten.
Die globale Finanzkrise und die anschließende „Staatsschuldenkrise“ der Europäischen Währungsunion haben diese Arrangements nachhaltig erschüttert. Es kommt zu grundlegenden Neubewertungen der Solvenz von Industrienationen und es werden institutionelle Justierungen auf der europäischen Ebene angestoßen – auch durch die Erfahrung „unkonventioneller“ Zentralbankpolitiken. Zudem wurden durch Effekte negativer Anleiheerträge grundsätzliche Logiken des Schuldenkonzeptes zeitweise umgekehrt. Die ehemals „risikolosen“ Anleihemärkte erschienen als Risiko für die Stabilität des Finanzsystems und verdeutlichten somit die historische Kontingenz und Veränderbarkeit der Rolle von Staatsschulden in der Geldordnung. Die andauernde Krise der Währungsunion wirft Fragen nach Verschiebungen und Neuverhandlungen staatlicher Kreditwürdigkeit sowie Folgen für soziale Ordnungen und politische Spielräume auf.
Es soll daher untersucht werden, wie die ursprünglich nationalstaatlich gefasste staatliche Kreditwürdigkeit in der Europäischen Währungsunion hergestellt wird und welche Verschiebungen dieser Gefüge seit der Eurokrise zu beobachten sind. Zentrale Fragen sind: Wie lässt sich souveräne Kreditwürdigkeit theoretisch und methodisch erfassen, um ein besseres Verständnis dafür zu gewinnen, welche soziopolitischen Logiken und Praktiken sie konstituieren? Inwieweit spiegeln veränderte Vorstellungen von monetärer Souveränität und Zahlungsfähigkeit sich wandelnde Relationen zwischen Staaten, Finanzmärkten und Steuerzahlenden wider? Welche Rolle spielen diese Erkenntnisse für das allgemeinere Verständnis monetärer Souveränität und kapitalistischer Geldordnungen?