Recht und Gesellschaft in Transition: Zur normativen Integration der Weltgesellschaft
Seit Mitte der 80er Jahre suchen Gesellschaften, die sich mit ihrer blutigen Vergangenheit konfrontiert sehen, diese mit Hilfe von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen zu bewältigen. In einem Zeitraum von knapp 30 Jahren lassen sich über 50 Fallbeispiele in zahlreichen Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens, Mittel- und Osteuropas und aktuell auch in einem arabischen-islamischen Land (Marokko) aufführen. Die betroffenen Postkonfliktgesellschaften haben zur Bewältigung von vergangenem Unrecht weder nationale, noch internationale Strafgerichte angerufen, sondern stattdessen auf das Konzept von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gesetzt. Weltweit lässt sich das Phänomen beobachten, dass einer nicht-juridischen Konfliktlösungsform, die eine kollektive Aufarbeitung entstandenen Unrechts im Sinne einer "restorative justice" mit dem gesellschaftlichen Ziel der Versöhnung und Vergebung, der Vorzug gegenüber den strengen rechtlich organisierten Mechanismen einer reinen Strafjustiz eingeräumt wird.
Mit dieser globalen Ausbreitung eines Vergangenheitsbewältigungsinstruments, das nicht Recht, sondern ein quasi-religiöses "Gerichtstheater des Pardons" als Mittel der Bewältigung von Unrecht nutzt, verändert sich für die jeweiligen Gesellschaften nicht nur die Perspektive auf die eigene Vergangenheit und die Art und Weise, diese kollektiv zu erinnern, sondern sie verschafft damit einer genuin christlich-religiösen Semantik einen globalen Legitimations- und Geltungsraum, den sie bisher jedenfalls, nicht eingenommen hat.
Was aber heißt Vergebung und Versöhnung? Warum wird gegenwärtig weltweit in völlig unterschiedlichen Konfliktlagen, unterschiedlichen gesellschaftspolitischen, ethnisch-kulturellen und religiösen Kontexten in der "Sprache Abrahams" (Jacques Derrida) vergeben und versöhnt? Wer bittet um Vergebung? Und wer gestattet Versöhnung?
Fragen dieser Art reichen tief in jene weit gefächerten Diskussionen hinein, die unter jeweils unterschiedlichen Disziplin- und Theorieperspektiven im Rahmen der laufenden Konflikt-, Friedens-, Transitions-, Erinnerungs-, Gedächtnis- und Vergangenheitsbewältigungsdebatte unter dem Stichwort "Transitional Justice" kontrovers geführt werden.
Gemeinsam ist allen Problematisierungsperspektiven, dass sie den Analysefokus auf eine gesamtgesellschaftliche Zäsur legen, da die Gegenwarten der betroffenen Postkonfliktgesellschaften in aller Regel das Resultat eines gerade zurückliegenden gesellschaftlichen Zusammenbruchs darstellen, und das soziale Interagieren in der Tat zerrüttet und durch zerstörte Institutionen, Gewalt, Misstrauen und moralische Verwahrlosung geprägt ist. Aber diese Engführung der Blickrichtung auf Systembruch und die damit einhergehende Beurteilung der Einsetzung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen als Folge von Überlastung, bzw. eines Kollaps staatsgarantierter Rechtspflege, verkennt, dass auch gut organisierte Staaten in den zentralen Knotenpunkten der Weltgesellschaft, wie die Länderbeispiele USA, Deutschland, Australien und Kanada belegen, sich dieses Instruments bedienen.
Das verweist auf die Universalität eines zentralen Problems, dass ganz offensichtlich mit Hilfe von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen gelöst wird: Bilden Wahrheits- und Versöhnungskommissionen demnach das eigentliche universelle Konfliktbewältigungsmodell der Weltgesellschaft? Erweitern oder unterminieren sie das globale (Straf-) Rechtssystem? Auf welche Problemlagen reagieren Gesellschaften mit der Einrichtung von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen? Was ist ihre spezifische Funktion?
Ausgehend von diesen Fragestellungen untersucht das Projekt in Anlehnung an die Weltkulturtheorie der Stanforder Schule von John W. Meyer und die Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann diejenigen sozialstrukturellen Dynamiken und Mechanismen, die zur transnationalen Diffusion vergangenheitspolitischer Semantiken, Normen, Standards und Institutionen auf globaler Ebene geführt haben.
Auf der Grundlage empirischer Befunde lassen sich spezifische Akteure, Träger und Verbreiter identifizieren, die als translokale Normagenten maßgeblich an diesen Welt- Vergesellschaftungsprozessen beteiligt sind. Vermutet wird, dass als Folge dieser gesellschaftlichen und rechtlichen Transformationen nationale Erinnerungs-, Vergangenheits- und Unrechtsbewältigungspolitiken zunehmend synchronisiert werden. Die Hypothese soll am Beispiel des aktuellen gesellschaftlichen Transitionsprozesses im Königreich Marokko überprüft werden. Das Ziel der Studie ist es, das komplexe Kopplungs- und Entkopplungsverhältnis zwischen einer – an der Semantik der Menschenrechte orientierten – Erinnerungs-, Versöhnungs- und Unrechtsbewältigungskultur auf globaler Ebene und den partikularen Aneignungs- und Instrumentalisierungspraxen auf lokaler Ebene zu beschreiben.
(Stand September 2012)