Selbstthematisierung und Nation

(Stand März 2002)

Moderne Gesellschaft wurde spätestens seit der Französischen Revolution als nationale thematisiert. Sie mußte sich selbst schaffen und noch ihre innere Struktur und soziale Dynamik aus sich selbst erklären. Die Selbstthematisierungsformen der nationalen Vergesellschaftung, die sich als gegebene oder zu schaffende Gemeinschaften ansahen, wurden in diesem Projekt am Beispiel der deutschen und französischen Entwicklung untersucht. Beide Selbstthematisierungsformen werden dabei als Differenzierungsmittel nach innen und außen deutlich.

Es sind die zwei klassisch gewordenen Typen der Nation, die den beiden Ländern Frankreich und Deutschland zugeordnet werden: Staatsnation und Kulturnation. Die eine schaffe sich ihre Kultur, die andere setze sie voraus. Die Typisierung selbst aber kann nicht nur als Selbstbeschreibung, sondern als Mittel zur Herstellung der behaupteten Differenz betrachtet werden. Die Zuschreibungen sind selbst Charakteristika der Nation als moderner Form der politischen Vergesellschaftung, die den ambivalenten Zusammenhang von rechtlicher und empirischer Konstitution des Nationalen je einseitig auflösen.

Dem ambivalenten Zusammenhang der rechtlichen und empirischen Konstitution des Nationalen wird in drei französisch-deutschen Paarbildungen nachgegangen: Johann Gottlieb Fichte und Maurice Barrès; Émile Durkheim und Max Weber; Ernst von Salomon und Louis Ferdinand Destouches, genannt Céline. Fichte schrieb mit den "Reden an die Deutsche Nation" einen Text, der später als Programmatik eines ethnischen Nationalismus betrachtet wurde; Barrès war der Literat des "Kultus des Ich", der, Fichte lesend, sein Ich/Wir entdeckte und schließlich den inneren (Dreyfuß) und äußeren (Deutschland) Feind bekämpfte. Mit den "Entwurzelten" (Les Déracinés, 1897), dem nach Louis Aragon ersten modernen politischen Roman, dessen Titel in die Umgangssprache einging, schuf er ein sich einprägendes Bild für die Auflösungstendenzen der Moderne, der nur durch konsequente Nationalisierung begegnet werden könnte.

Literarischen und philosophischen Selbstthematisierungen steht die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts institutionalisierende soziologische Form der Selbstthematisierung gegenüber. Soziologie thematisiert die Differenzen und Differenzierungen aus der Dynamik der sich industrialisierenden Gesellschaft. Einheit betrachtet sie als Problem der Integration. Nicht Nation sondern Gesellschaft ist ihr Bezugspunkt. Zumeist implizit wird bei den europäischen Gründern der Soziologie, Émile Durkheim und Max Weber, die Gesellschaft dennoch zur nationalen. Die Nation als Selbstthematisierungsform der modernen Gesellschaft geht dem Gesellschaftsbegriff voraus.

Nach 1918 setzt sich kollektive, nationale Selbstbestimmung als vorgestellte Normalform von Gesellschaft international durch. Dem steht als paradoxe Bewegung die Auflösung des Begriffs der Nation gegenüber. Diese wird am Beispiel von zwei Schriftstellern und politischen Akteuren gezeigt. Ernst von Salomon, Freikorpskämpfer, beteiligt am Rathenau-Attentat und zum Schriftsteller geworden, Mitglied der nationalistischen deutschen rechten Intellektuellengemeinschaft, löst den Begriff der Nation ins Geheimnis und die Tat auf. Das "Wir" wird im aktivistischen "Ich" verabsolutiert. Die Nation ist dort, wo die aktivistischen, kalt-erhitzten Kämpfer und Schreiber stehen. Im Frankreich nach dem Krieg scheint die Nation zunächst gefestigt. Der junge Céline beschreibt die Greuel des Krieges, die Welt des Kolonialismus, der amerikanischen Industrie. Es ist ein delirierendes Ich, das dieser Welt ausgesetzt ist. Dieses festigt sich schließlich nicht in der Nation, sondern in der Rasse. Céline wird zum Kollaborateur "avant la lettre".

Im Begriff der Rasse, des Volkes als Volksgemeinschaft und der Auflösung des Gebietes in den Raum löst sich die Form der Nation auf. Sie überlebt die Verengung und gleichzeitige Erweiterung nicht und bleibt im emanzipativ interpretiertem Begriff der Selbstbestimmung dennoch die nun auch, seit 1948 mit der Gründung der UN, rechtlich fixierte Form der politischen Organisation der Gesellschaften der Weltgesellschaft. Nur im Nationalstaat kann man Anerkennung erlangen. Die Form der Nation aber verändert sich, ohne die in ihr angelegten Ambivalenzen lösen zu können.

Der Begriff der Gesellschaft hat sich von dem der Nation gelöst. Der historisch vorgängige Selbstthematisierungsbegriff der Nation bleibt dennoch erhalten, da der nationale Staat weiterhin die anerkannte politische Organisationsform der Gesellschaft ist. Er kann sich aber nicht mehr als politisch und ökonomisch souverän thematisieren. Nur die Kultur bleibt als ein Bereich erhalten, an den die Forderung nach Selbstbestimmung angeschlossen werden kann. Unterscheidung und Existentialisierung werden nun vor allem an den weichen Begriff der Kultur gebunden. Der differenzierungstheoretische Optimismus des Gesellschaftsbegriffs wird gebrochen, die Möglichkeit, Anderssein als Bessersein in die Forderung nach politischer Selbstbestimmung umzusetzen, besteht weiter.