Ethik nach dem Holocaust

Moralische Argumentationen in den Debatten um die Geschichte des Nationalsozialismus

(Stand Mai 2004)

Das Projekt fragt nach den Legitimationsgrundlagen des Nationalsozialismus in kollektiv geteilten Moralvorstellungen und untersucht das Fortwirken und die Veränderung dieser Moralvorstellungen nach der Zerschlagung des NS. Zwei Bereiche werden miteinander verbunden: Zum einen werden historische Entstehung, Wirkungsweise und Fortwirken der NS-Moral beschrieben. Zum anderen werden vergangenheitspolitische Kontroversen, die in Deutschland bereits vor der Entstehung der Bundesrepublik und der DDR geführt wurden und werden, auf ihre expliziten und impliziten moralischen Stellungnahmen hin betrachtet. Beide Perspektiven werden durch eine dritte, philosophische Perspektive vermittelt, in der die ethischen Fragen, die in den vergangenheitspolitischen Debatten eine Rolle spielen, aus der Perspektive der ersten Person analysiert werden.

Ausgangspunkt der Untersuchung der vergangenheitspolitischen Kontroversen sind die Diskussionen der aktuellen Gegenwart, die sich dadurch auszeichnen, daß die Vergangenheitspolitik als solche inzwischen theoretisch reflektiert wird, so daß für die Erörterung der moralischen Stellungnahmen eine Analyse der methodischen, d.h. kulturwissenschaftlichen, politikwissenschaftlichen und psychologischen Topoi, die in diesen Debatten gebräuchlich sind, unausweichlich wird. Die Ergebnisse werden in einer eigenen, kleineren Monographie veröffentlicht.

Aus der Auswertung der Gegenwartsdiskussionen ergeben sich die Leitmotive (Kollektivschuld, verschiedene Formen der Rechtfertigung, Forderungen der Historisierung, Vorwurf der Ritualisierung des Gedenkens, Schuld und Nationalismus) für die Darstellung und philosophische Analyse der Debatten in der weiter zurückliegenden Geschichte der Bundesrepublik. Hier wird der Focus auf die Umbruchsphase in der Zeit der Nürnberger Prozesse eingeengt.

Die kritische Reflexion der gegenwärtigen Diskussionen wird im Projekt durch Analysen von Ethik und Moral im NS konterkariert. Mit dem Stichwort "Moral im NS" ist eine Frage aufgeworfen, auf die letztlich nur umfangreichere historische Untersuchungen ein Antwort gegen können. Diese bringen aber immer auch die Frage nach den Grundzügen nationalsozialistischer ethischer Vorstellungen mit sich. Hierzu wurden Texte Hitlers und Himmlers, aber auch Schulungshefte für die Hitler-Jugend und andere Texte zur Ethik, die in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus verfaßt worden sind, herangezogen.

Fünf verschiedene Aspekte sind dabei zu erkennen: erstens die wiederkehrende Nennung eines Kataloges, der mit geringfügigen Änderungen immer dieselben Tugenden enthält: Ehre, Treue, Gehorsam, Kameradschaft usw.; zweitens die Bedeutung der Opferrhetorik, die sowohl in vielen Schriften der NS-Ideologie als auch in öffentlichen Ritualen deutlich heraustritt – sie wird weniger als Wiederkehr archaischer Rituale, sondern vielmehr als eine bestimmte Form der Erzeugung von Gefühlen moralischer Verpflichtung verstanden werden, drittens die Rolle, die die Herausbildung einer Wertethik gespielt hat und die Bedeutung der "Rassisierung" der Werte, und viertens die Funktion, die der Antisemitismus bei der moralischen Wertbildung einnahm.

Die philosophische Analyse – sowohl der NS-Texte als auch der Nachkriegstexte – ist auf die Fundierung durch Überlegungen philosophischer Ethik angewiesen.

Weil es sich bei den ethischen Vorstellungen, die in den NS-Texten explizit oder implizit zum Ausdruck kommen, nicht um eine geschlossene und systematische Ethik handelt, reicht es nicht aus, sie von einem geschlossenen ethischen System aus zu analysieren. Vielmehr müssen die Instrumente der Debatte jeweils themenspezifisch entwickelt werden. Dabei erweist es sich als ein Vorteil, daß durch die gegenwärtige Entwicklung der philosophischen Ethik viele Aspekte thematisiert werden, die auch in den NS-Ethiken eine Rolle spielten – so ermöglicht etwa die Renaissance von Tugend- und Wertethiken im Kontext neuerer liberalistischer Konzepte (beispielsweise bei Joseph Raz) eine differenziertere Auseinandersetzung, als sie von Pflichtethiken her möglich wäre. Das ermöglicht eine Diskussion nicht nur über die Gesamtanlage der ethischen Vorstellungen im NS – die Betonung der tugendethischen Orientierung und die geringe Rolle des Pflichtbegriffs, der Ausgang von einer Konzeption des Guten statt des Rechten, die aggressive Betonung des Partikularen gegenüber dem Universellen – sondern eine Analyse der Besonderheit der besonderen Auswahl und Konzipierung derjenigen Tugenden, die für die NS-Ideologie bedeutsam waren.