Körperwahrnehmung und Psychopathologisierung im 18. Jahrhundert
Die Gerichtsmedizin, Anfang des 18. Jahrhunderts noch ein unscheinbarer Teilbereich der akademischen Medizin, gewann in den folgenden Jahrzehnten zunehmend an Bedeutung. Zur Wissensvermittlung griff die akademische Medizin verstärkt auf eine neue Lehrmethode zurück: die Publikation authentischer Fälle aus der gutachterlichen Praxis von Universitätsprofessoren sowie Stadt- und Kreisärzten.
In den etwa 2000 untersuchten Fällen finden sich neben den Gutachten, auch Gerichtsurteile und Auszüge aus den Prozeßakten, sowie teilweise Protokolle der Befragungen der Beklagten durch den Arzt. Ein Teil der untersuchten Fälle sind sogenannte Gemütszustandsgutachten, die sich mit der Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten auseinandersetzten. Anhand dieser bislang unbekannten Quellengruppe konnte die Konfrontation normativer wissenschaftlicher Erkenntnis mit den pragmatischen Notwendigkeiten der Untersuchungspraxis gezeigt werden. Dabei wurden die somatischen und psychologischen Grundlagen der Psychiatrie und deren Einbettung und Kategorisierung in naturalisierte Geschlechterbilder beleuchtet. Medizinische Erkenntnisse ermöglichten es im Zeitalter der politischen Emanzipationbewegungen, entsprechende Vorstellungen für das weibliche Geschlecht als »nicht naturgemäß« unwiderlegbar zurückzuweisen. Die kultur- und körperhistorisch angelegte Analyse zeigt wie sich Kirchen- und Kriminalgerichte zur Klärung zweifelhafter Sachverhalte immer häufiger an Ärzte wandten. Aus einem Konglomerat antiker (Humoralpathologie) und modernder (Anatomie, Hirnphysiologie) »Denkstile« (Ludwik Fleck) entwickelte »wissenschaftliche Tatsachen« wurden auf alle Bereiche abweichenden Verhaltens geschlechts- und standesspezifisch differenziert übertragen und führten zu einer stark sexuell konnotierten Moralmedizin: Sittenwidriges Verhalten wurde nun nicht mehr unter theologischen, sondern auch unter humanbiologischen Aspekten, sowohl als individuell als auch das Staatswohl gefährdend, angeprangert.
Seit den 1780er Jahren ergab sich daraus bei den aufklärerischen Strafrechtsreformen eine zweischneidige Rolle der Medizin: Einerseits führten Unzurechnungsfähigkeitskriterien zu einem erheblichen Rückgang der Todesurteile, andererseits verschwanden immer mehr Menschen als »gefährliche Irre« oder auch nur »öffentliche Last« auf unbestimmte Zeit in den verschiedenen frühneuzeitlichen Verwahranstalten.
Die im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmende Befolgung der medizinischen Einschätzungen seitens der Gerichte - die sich von der Selbstsicht der Betroffenen gerade im moralischen Bereich noch um 1800 erheblich unterschieden - trug langfristig sicherlich zur Internalisierung der (neuen) Körpervorstellungen bei. Dieser Vorgang gibt Auskunft über die wachsende politische Reichweite der ärztlichen Definitionsmacht, die innerhalb weniger Jahrzehnte zur neuen »Königsdisziplin« (Michel Foucault) wurde und allumfassende Standards für Normalität, Naturgemäßes und Widernatürliches setzte.
(Stand Februar 2000)