Jenseits des Rechts - Ein empirischer Beitrag zur (arbeits-)richterlichen Entscheidungstätigkeit

(Stand September 2007)

Das Dissertationsprojekt möchte einen empirisch erarbeiteten Praxisbeitrag zum Thema der Rechtsanwendung, namentlich der richterlichen Entscheidungstätigkeit, leisten. Dabei legt es gesetzliche Entscheidungsspielräume, die mittels Rechtstheorie und juristischer Methodenlehre aufgezeigt werden, zugrunde.

Sobald sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter mit dem Tätigkeitsbereich der Rechtsanwendung beschäftigen, geraten unvermeidlich sowohl die Sphäre des Sollens als auch die Sphäre des Seins in den Fokus ihrer Untersuchung. Dieses Nebeneinander des Normativen und des Faktischen führt zu vielfältigen rechtsanwendungsspezifischen Problemlagen, an denen sich die unterschiedlichsten wissenschaftlichen Zugänge - wie juristische Begründungslehre, strukturierende Rechtslehre,  juristische Topik, aber auch Logik, Psychologie und Rhetorik - abarbeiten.

Der Blick des Projekts richtet sich vor allem auf die richterliche Entscheidungstätigkeit. Sie wird - bezogen auf den Normsetzungsspielraum bei Rechtsanwendungen - primär als Seinswissenschaft thematisiert. Ausgangspunkt ist die rechtstheoretische Überlegung, dass jede richterliche Entscheidung einen durch Gesetz eröffneten und zugleich begrenzten Spielraum füllt. Richterinnen und Richter entscheiden jeden einzelnen Rechtsfall auf Grund von abstrakt-generellen Regelungen, wobei sie das Gesetz anwenden (in Form der Rechtserkenntnis), aber auch Recht setzen. Sie setzen eine individuelle Einzelfallnorm, mit der sie die rechtliche Beziehung der Parteien konkret verändern. Dieser Vorgang, der sich gerade nicht im Gesetzesvollzug erschöpft, hat gestaltenden Charakter. Der Staats- und Verwaltungsrechtler Adolf Merkl hat dafür das Bild vom „doppelten Rechtsantlitz“ geprägt. Es bringt zum Ausdruck, dass (fast) alle Gesetzesanwendungen auf der Grundlage des Stufenbaus der Rechtsordnung zum einen Rechtsvollzug und zum anderen Rechtsschöpfung sind.

Das Projekt widmet sich einem bisher vernachlässigten Zugang zur Untersuchung der richterlichen Entscheidungstätigkeit: der Empirie. Die klassischen juristischen Methodenlehren sind vornehmlich „normgebunden“ und nehmen den Rechtsetzungsaspekt der Rechtsanwendung nicht dezidiert in den Blick. In dieser Arbeit soll es gerade um den Bereich der nicht-rechtlich determinierten Rechtsanwendung gehen. Die Richterinnen und Richter selbst werden in den Untersuchungsfokus gerückt. Denn sie allein füllen die rechtlichen Spielräume und fällen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben Einzelfallentscheidungen.

Die Beantwortung rechtsmethodischer Fragen mittels empirischer Forschung scheint besonders in Hinblick auf das Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit gewinnbringend. Das Arbeitsrecht ist stark durch seine Lückenhaftigkeit und die Existenz von Generalklauseln gekennzeichnet. Zudem befinden sich das Arbeitsrecht und die Arbeitsgesellschaft seit einigen Jahren in einem Prozess der Umstrukturierung. Erinnert sei hier nur an die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und die Lockerung der Tarifbindung. Die Arbeitsgerichte bilden das Recht in beträchtlichem Maße fort und haben sich als so genannte  Ersatzgesetzgeber etabliert. Es kann mithin davon ausgegangen werden, dass sich die Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter in besonderem Maße mit dem rechtsschöpferischen Aspekt der richterlichen Rechtsprechungstätigkeit auseinander setzen und sich verstärkt Fragen nach außerrechtlichen Entscheidungskriterien widmen - insoweit relativ bewusst innerhalb der rechtlichen Gestaltungsspielräume agieren.

Auch die institutionellen Besonderheiten der Arbeitsgerichtsbarkeit legen eine empirische Untersuchung gerade dieses Gerichtszweiges nahe. Die Richterinnen und Richter arbeiten als alleinige Berufsrichter, als Kammervorsitzende, stets mit ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern zusammen, die unter anderem den erforderlichen betrieblichen Sachverstand und damit auch pragmatische, außerrechtliche Gesichtspunkte in die Entscheidungen einbringen. Abschließend bleibt noch die herausragende Bedeutung der Güteverhandlung zu erwähnen. In über fünfzig Prozent der Urteilsverfahren findet eine gütliche Einigung statt und der Richter oder die Richterin fällt kein Urteil, sondern tritt vermittelnd auf. Durch diese Besonderheit ist die Frage nach der richterlichen Handlungsleitung jenseits gesetzlicher Vorgaben von umso größerem Interesse.

Geplant sind leitfadengestützte Interviews mit Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter der ersten und zweiten Instanz unter anderem zu folgenden Fragekomplexen:
Rechtliche Spielräumen und Entscheidungskriterien jenseits gesetzlicher Vorgaben;
Maßstäbe für die Qualität von Entscheidungen sowie nach der richterlichen Unabhängigkeit;
Prozess der richterlichen Entscheidungstätigkeit: u.a. dem richterlichen Arbeitsalltag und der Einbindung von ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern;
Eigenschaften und Fähigkeiten guter Richterinnen und Richter.

Eine empirische Untersuchung zum Vorgang der Rechtsanwendung und der Entscheidungstätigkeit der Richterinnen und Richter jenseits gesetzlicher Vorgaben mag einen methodischen Impuls geben. Die Praxis des Richtens gerät in den Blick und benennt die tatsächlichen Herausforderungen der Rechtsanwendung. So wird der Entscheidungsprozess ein Stück weit erhellt. Die Untersuchung will mit der Einbeziehung der richterlichen Realitäten dem Dialog zwischen Theorie und Praxis dienen.