Menschenfalle. Moskauer Exil und stalinistische Inquisition

(Stand Oktober 2001)

Diese Fallstudie sucht die Verfolgungslogik einer "konterrevolutionären terroristischen, trotzkistischen Organisation" nachzuzeichnen, der vom NKWD nach dem Prinzip der Kontaktschuld zahlreiche deutsche Emigranten (Zenzl Mühsam, Carola Neher, Werner Hirsch, u.a.) zugerechnet wurden. Der anfängliche Versuch, den Leidensweg von Kreszentia Mühsam zu skizzieren, führte zur Rekonstruktion einer weitverzweigten, um Erich Wollenberg und Max Hoelz zentrierten Verschwörungsfiktion, die 1936/37 durch erfolterte "Geständnisse", durch die Amtshilfe des Komintern-Apparats und durch individuelle Denunziationen im Kontext des "Großen Terrors" entstand. In dieses Verschwörungskonstrukt sind zahlreiche reale Biographien verwoben, deren für "Parteisoldaten" typischer Verlauf und deren individueller Widerschein jedoch nur in den gebrochenen Formen von »Ego-Dokumenten«, fragmentarischer Erzählung und bürokratischer Überlieferung erscheinen. Erst durch die Rekonstruktion von Biographien kann in dem NKWD-Konstrukt einer "konterrevolutionären, trotzkistischen Hoelz-Wollenberg-Organisation" hinter der Fiktionalität der erfolterten "Geständnisse" und "Verhörprotokolle" jene bürokratisch organisierte Verfolgungspraxis und zugleich irrationale Terror-Logik des stalinistischen Herrschaftssystems genauer dargestellt werden.

Der Focus der Darstellung richtet sich dabei auch auf den Stalinismus "von oben", der sein manichäisches Weltbild durch Stalin-Direktiven, Politbüro-Beschlüsse, ZK-Rundschreiben und durch die zentral gesteuerte Propaganda als Partei- und Herrschaftsdiskurs, Feindbild, Verschwörungsphantasma und NKWD-Vernichtungsbefehl ausprägte. Zugleich beschreibt der Fall der fiktiven "Wollenberg-Hoelz-Organisation", daß die den Machtzentren der KPdSU nachgeordneten Bürokratien der Komintern, die Kaderabteilung des Exekutivkomitees Kommunistischen Internationale (Ekki) und der KPD-Apparat als Kontroll-, Selektions- und Verfolgungsmaschinerie erst durch den "Stalinismus von unten", d.h. durch die bereitwillige Initiative und Mithilfe von radikalisierten Funktionstätern und durch die massenhafte Denunziationspraxis ihre terroristische Gewalt und organisierte Willkür entfalten konnten. Terror von oben, bürokratische Funktionalität der "Organe" und "bolschewistische Wachsamkeit" von unten verschränkten sich in den dreißiger Jahren der Sowjetunion zu einer Herrschaft von Gewalt und Angst, deren traumatisch erlebte Mentalitätsprägungen und ideologische Zurichtungen sich noch heute im Alltagsbewußtsein vieler ehemaliger "Sowjetbürger" abzeichnen.