Die Produktion fremdenfeindlicher Gewalt im Post-Apartheid Südafrika
Während die meisten bei „Südafrika“ und „Rassismus“ wohl intuitiv an Kolonialismus und das rassistische Apartheidsystem denken, also an einen „weißen“ Rassismus, der sich gegen die schwarze Mehrheitsbevölkerung des Landes richtet bzw. gerichtet hat, lässt sich spätestens seit dem Ende der Apartheid eine weitere, gemeinhin aber wohl weitaus weniger bekannte Form von Rassismus und rassistischer Gewalt in Südafrika beobachten: Seit geraumer Zeit steht das Südafrika der Post-Apartheid Ära in Verruf einer der weltweit gefährlichsten Orte für Einwanderergruppen aus anderen afrikanischen Staaten zu sein. In regelmäßigen Abständen greifen Gruppen schwarzer Südafrikaner afrikanische Migranten an und brandschatzen und/oder zerstören Unterkünfte und Geschäfte von afrikanischen Einwanderern. Während viele afrikanische Migranten von chronischen Übergriffen durch südafrikanische Bürger, weitverbreiteter polizeilicher Schikane und einem alltäglichen Klima der Angst berichten, überlagern drei besonders schwerwiegende Fälle die alltägliche Ausgrenzungserfahrungen afrikanischer Migranten im gegenwärtigen Südafrika: Erstmals kommt es im Mai 2008 zu landesweit mehr oder weniger zeitgleich stattfindender Gewalt gegen „Ausländer“ in über 100 Gegenden Südafrikas. Offiziellen Angaben zufolge wurden in den dreiwöchigen Attacken mindestens 61 Menschen getötet, 670 Menschen verwundet und über 100.000 Menschen aus ihren Wohngebieten vertrieben. Im April 2015 kommt es dann erneut zu mehrwöchigen fremdenfeindlichen Übergriffen im ganzen Land: Hierbei werden mindestens 7 Menschen getötet, 500 vertrieben und außerdem mehr als 300 Geschäfte und Häuser geplündert. Zum dritten Mal brechen kollektive fremdenfeindliche Ausschreitungen schließlich am 1. September 2019 aus: Nach mehrtägigen Übergriffen in Pretoria und der Innenstadt von Johannesburg werden bis Mitte des Monats erneut mindestens 12 Personen getötet und über 50 vornehmlich von afrikanischen Migranten geleitete Geschäfte zerstört oder geplündert.
In dem Dissertationsprojekt sollen nun die drei aufgeführten Fälle von fremdenfeindlicher Gewalt gegen afrikanische Migranten in den Jahren 2008, 2015 und 2019 genauer untersucht werden. Im Mittelpunkt der Arbeit steht dabei die Frage nach der Produktion der kollektiven Gewalt. Um sowohl Form, interne Dynamik und Verkettung von einzelnen Ereignissen innerhalb der ausgewählten Gewaltepisoden untersuchen zu können als auch diesbezügliche Vergleiche zwischen den drei Fällen anstellen zu können, eignet sich eine Vorgehensweise, die in der Lage ist, gleichzeitig der Morphologie und dem Rhythmus der untersuchten Kollektivgewalt Rechnung zu tragen. Zur Gruppierung der untersuchungsleitenden Fragen, bietet es sich an, einen ersten Bündel von Fragen unter dem heuristischen Konzept „Morphologie“ und eine zweite Reihe von Fragen unter dem sensibilisierenden Begriff des „Rhythmus“ zu versammeln:
Morphologie: Wer sind die Täter, die Zuschauer und Betroffenen der landesweiten Ausschreitungen der Jahre 2008, 2015 und 2019? Handelte es sich in diesen Fällen jeweils eher um spontane, nicht-organisierte Gewalt oder eher um großangelegte und sorgfältig koordinierte Gewalt oder eher um eine Mischung aus beidem? Warum richtet sich die Gewalt jedes Mal gegen bestimmte Kategorien von Personen und warum verschont sie hingegen andere? Warum kommen in allen drei Fällen auch immer eine erhebliche Anzahl von Südafrikanern zu Tode (immer mindestens 30% der insgesamt getöteten Personen), obwohl die Gewalt doch von sich selbst behauptet gegen „Ausländer“ gerichtet zu sein? Und von welcher Form der Gewalt sprechen wir bei den Ereignissen 2008, 2015 und 2019 überhaupt? Wie sind die Täter vorgegangen, welche Waffen haben sie benutzt und was haben sie mit diesen Waffen genau angestellt?
Rhythmus: Warum kam es gerade 2008, 2015 und 2019 zu landesweiten Attacken gegen afrikanische Einwanderer und nicht zum Beispiel im Jahr 2010 als Südafrika die Fußballweltmeisterschaft ausrichtete? Wo ereignete sich die Gewalt? Gibt es Orte, die wiederholt von kollektiven Ausschreitungen gegen Ausländer und Fremde betroffen sind und Orte, in denen die Gewalt eine besonders letale Form annimmt? Oder zeigt sich vielmehr, dass es keine klar identifizierbaren Cluster der Gewalt gibt und die Gewalt sich mehr oder weniger diffus im ganzen Land ausgebreitet hat? In jedem Fall müsste aber erklärt werden: An welchen Orten und zu welcher Zeit die Gewalt ihren Anfang nahm, ihren Höhepunkt erreichte und schließlich ihr vorläufiges Ende fand, nur um nach einiger Zeit wiederzukehren. Und abschließend: Wie hängen die Gewaltepisoden 2008, 2015 und 2019 miteinander zusammen? Lassen sich z.B. Ähnlichkeiten, Verbindungen oder Verkettungen zwischen den aufeinanderfolgenden Ausschreitungen erkennen? Gibt es etwa vergleichbare Verlaufsmuster und sequenzielle Abfolgen oder erfindet sich die Gewalt jedes Mal wieder neu?
Methodische Vorgehensweise
In methodischer Hinsicht setzt sich das Vorhaben aus einer Kombination verschiedener qualitativer Forschungszugänge zusammen, die sich grob einteilen lassen in:
(a) Sichtung und Analyse einschlägigen Sekundärmaterials
Hierzu zählen wissenschaftliche Arbeiten, offizielle Stellungnahmen der südafrikanischen Regierung, zivilgesellschaftliche Reaktionen als auch lokale, nationale und internationale Zeitungsberichte zu den Gewaltgeschehnissen 2008, 2015 und 2019. Außerdem wird eine Sammlung von Foto- und Videomaterial angelegt, das während der Ausschreitungen von anwesenden Personen erstellt worden ist.
(b) Feldforschung und Durchführung von Interviews vor Ort
Geplant sind darüber hinaus zwei Feldforschungsaufenthalte in Johannesburg, bei denen es darum geht, möglichst viele der Orte zu besichtigen, in denen es 2008, 2015 und 2019 zu fremdenfeindlichen Ausschreitungen gegen afrikanische Migranten gekommen ist. In dem Zusammenhang sollen dann auch ereigniszentrierte Interviews mit Personen aus den betroffenen Nachbarschaften durchgeführt werden - im Idealfall mit Opfern, Tätern und Zuschauern der Ausschreitungen, aber auch mit Polizisten und Personen, die von der Gewalt nicht unmittelbar betroffen gewesen sind, wie z.B. Kirchenvertreter, zivilgesellschaftliche Akteure und politische Amtsträger. Außerdem sind Experteninterviews mit sachkundigen südafrikanischen Wissenschaftlerinnen geplant, die zum Thema der anti-afrikanischen Gewalt in Südafrika forschen.
Forschungsbeiträge der Arbeit
Mögliche Beiträge des Dissertationsprojektes möchte ich kurz in stichwortartiger Form präsentieren:
• Bereicherung der methodischen Herangehensweise an Phänomene kollektiver Gewalt
• Erweiterung und Vertiefung der existierenden Forschungsergebnisse zur fremdenfeindlichen Gewalt gegen afrikanische Migranten im gegenwärtigen Südafrika
• Ergänzende Einsichten zu Theorien der (Gewalt)-massen und zur Konzeptualisierung nationalistischer und rechter Mobilisierungen weltweit, und damit zusammenhängend:
• Ein Beitrag aus Afrika, der nicht uninteressant für die Postkoloniale Theorie sein dürfte, und zudem
• das Potential besitzt, die stark auf den globalen Norden konzentrierte Forschung zu Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindlicher Gewalt zu irritieren und mit einer Perspektive aus dem globalen Süden zu konfrontieren.