Gesellschaftliche Dynamiken der Einsamkeit

Dem Projekt liegt eine paradigmatische Einsicht zu Grunde: Allein- und Einsamsein sind nicht einfach passiv erduldete, zufällige Zustände, sondern gesellschaftlich erzeugte Tatsachen. Zwar mag es Menschen geben, die aus psychischer Disposition oder aus persönlicher Vorliebe viel alleine oder oft einsam sind, im Normalfall bedürfen beide Sachverhalte aber der Stützung durch soziale Einrichtungen. Folglich fasst das Projekt Einsamkeit in ihrer dreifachen Erscheinung als subjektiv kodierte Empfindung, objektiven Zustand der sozialen Isolation und als reale Praxis des Alleinseins als Tatsache auf, die zumindest partiell durch gesellschaftliche Mechanismen erklärt werden muss. Drei Fragenkomplexe schließen an diese Betrachtungsweise an:

Wie verändert sich das innere Erleben des Einsamseins?
Es stellt sich die Frage, wie sich die subjektive Codierung aber auch die öffentlich verfügbaren Codes des Einsamkeitsempfindens in Abhängigkeit von gesellschaftlichem Entwicklungsgrad und sozialem Kontext verändern. Lassen sich Strukturmuster des Einsamkeitserlebens identifizieren, die im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Funktionsmustern stehen?

Wie verändern sich die gesellschaftlichen Mechanismen durch die Einzelne isoliert werden?
Wenn gesellschaftliche Prozesse Personen sozial isolieren, so gilt es diese Mechanismen erstens zu identifizieren und zweitens auf ihre historische Pfadabhängigkeit und ihre innere Entwicklungsgesetzmäßigkeit hin zu befragen. Gibt es eine Geschichte der Isolationsmechanismen? Isolieren unterschiedliche Gesellschaften verschiedene Gruppierungen? Kann dies in einem gesellschaftstheoretischen Modell eingefangen werden?

Wie gestalten, bewältigen und gewährleisten Menschen ihr Alleinsein?
In psychologischen und medizinischen Untersuchungen wird Alleinsein vornehmlich als ein Mangelzustand begriffen. Alleinsein ist jedoch mehr, sogar ein mitunter knappes Gut. Die Sorge der Menschen richtet sich folglich nicht nur auf das Ausweichen und Bewältigen des Alleinseins, sondern auch das Sicherstellen und Gestalten desselben.  

Forschungsdesign
Die drei Teilstudien des Projekts sind als Ländervergleiche zwischen Chile, Deutschland und den U.S.A. konzipiert. Die erste Teilstudie besteht in einem klassischen ethnomethodologischen Feldzugang über qualitative Interviews und teilnehmende Beobachtungen. Die Wahl der Länder ergab sich dabei aus der forschungsleitenden These, dass das Einsamkeitsempfinden vom demographischen Zyklus der Gesellschaft abhängt, in der die Probanden sozialisiert werden.
Befragt werden jeweils zwei Kontrastgruppen: Die erste Zielgruppe sind Personen, die sich in fortgesetzter und fortgeschrittener sozialer Isolation befinden. Die zweite besteht aus Personen für die Alleinsein und Einsamkeit zwar bekannte Größen aber keine dauerhafte Realität sind.

Die zweite Teilstudie befasst sich mit der statistischen Sekundäranalyse verfügbarer Daten zum Einsamkeitsempfinden, zu Alleinseinspraktiken und zu sozialer Isolation. Die theoretische Annahme lautet, dass sich in Gesellschaften, deren soziale Kohäsion immer stärker durch Exklusionsdrohungen und nicht mehr durch gemeinsame Wertorientierungen garantiert wird, die Zusammensetzung der sozial isolierten Bevölkerung, die Verteilung des Einsamkeitsgefühls und die Weisen der Alleinseinsgestaltung ändern. Analysiert wurden bisher das SOEP (Sozioöknomische Panel) und die Studie des ISSP (International Social Survey Programm). Weitere Sekundäranalysen sind in Arbeit.

Die dritte Teilstudie umfasst die diskursanalytische Exegese öffentlicher Einsamkeitsdiskurse. Gegenstand der Analyse sind populäre Songs.

Die Teilstudien befinden sich in der Feldphase. Bisher wurden Erhebungen in Deutschland und Chile durchgeführt. Im Rahmen des ethnomethodologischen Feldzugangs wurden bisher 13 Interviews in Deutschland und 20 Interviews in Chile durchgeführt. Die Interviews befinden sich derzeit in Transkription.

(Stand Mai 2012)