Praktiken richterlicher Unabhängigkeit
Die Figur des Richters in Demokratien steht aktuell wieder hoch im Kurs. Von Trumps Zweifeln an der Neutralität muslimischer und lateinamerikanischer Richter in den USA, über den Eingriff der AKP in den türkischen Justizapparat, bis hin zur Auseinandersetzung um die Effizienz im Fall Schulte-Kellinghaus - alle Beispiele laufen auf eine gemeinsame Einsicht zu: Eine Soziologie der Justiz kommt nicht ohne eine Analyse der Unabhängigkeit ihrer Richter aus. Sie ist das Fundament der Gewaltenteilung.
In dieser staatsrechtlichen Beschreibung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten in einer Gesellschaft kommt der rechtsprechenden Gewalt die Funktion eines „Puffers“ (Christoph Möllers) gegenüber politischer Machtdurchsetzung zu. In ihrem Zentrum steht die Richterschaft: Als Kontrollinstanz wacht sie über die Rechtmäßigkeit der übrigen Gewalten von Gesetzgebung und Regierung.
Die zentrale Frage ist daher, wie sich diese Kontrollfunktion vollzieht. Die Anforderungen zur Bestimmung, ab wann ein Richter unabhängig ist, sind in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren substantiell rigoroser geworden. In den Prozeduren zur Gewährleistung richterlicher Unabhängigkeit haben angefangen von der Debatte über Selbstorganisation, Fortbildungspflicht und professionelle Verhaltenskodizes bis zum Trend zum Einzelrichter strukturelle Umbrüche stattgefunden.
Im Projekt sollen diese Transformationen in der Praxis richterlicher Unabhängigkeit ebenso wie ihre Effekte für die richterliche Autorität untersucht werden. Mit dem Konzept richterlicher Autorität wird die organisationssoziologische Frage nach der „Sozialform Autorität“ (Wolfgang Sofsky) in der Organisation des Gerichts zwischen persönlichem Charisma und positionalen Befugnissen mit der gesellschaftstheoretischen Frage nach der Grundlage ihrer rechtsstaatlichen Legitimität verbunden. Forschungspraktisch stehen dann sowohl die sich wandelnden Prozeduren richterlicher Unabhängigkeit und deren Akteure, als auch ihre sozialtheoretische Bedeutung für demokratische Gewaltenteilung im Zentrum der Untersuchung. Wenn man die Pufferfunktion ernst nimmt, muss der sozialtheoretische Blick in zwei Richtungen wandern:
(1) Inwieweit verändern sich die Möglichkeiten und Grenzen der „Autonomie des Rechts“ (Niklas Luhmann)? Jenseits der vieldiskutierten verfassungstheoretischen Frage, wie sich die zunehmenden Forderungen nach einer Stärkung richterlicher Unabhängigkeit in rechtliche Formen überführen lassen, geht es hier um die soziologische Frage, was aus dem rechtlichen Konstrukt richterlicher Unabhängigkeit in der Praxis des Gerichtsalltags wird. Die Bedingungen und Verfahren, mit denen richterliche Unabhängigkeit gewährleistet wird, sind in den vergangenen drei Dekaden neu justiert worden. Diese Transformationen werden entlang einer Analyse der verschiedenen Prozeduren, ihrer Folgen für das Richteramt, ebenso wie der ihnen gegenüber bestehenden Resilienzmechanismen aufgearbeitet.
(2) Was macht Rechtsprechung umgekehrt innerhalb dieses Puffers, wenn man sie als gesellschaftsgestaltende Kraft ernst nimmt? Mit Blankettnormen auf der einen und einer „judicialization of politics“ (Ran Hirschl) auf der anderen Seite haben das Vertrauen ebenso wie die Gestaltungsspielräume, die Gerichten und der richterlichen Verhandlung im Rahmen politischer Entscheidungsprozesse eingeräumt werden, einen erheblichen Stellenwert. Für eine empirische wie theoretische Erschließung des Rechtssystems sind diese Einsichten der Arbeiten aus der jüngeren Politikwissenschaft und politischen Soziologie von besonderer Relevanz, loten sie doch aus, inwieweit das institutionelle Entscheidungszentrum des Rechtssystems über seine Kontrollfunktion hinaus politische Entscheidungsmacht vollzieht.