Ränder der Demokratie - Koordinierter Kapitalismus in West- und Südeuropa
Als nach der Kapitulation im Juli 1940 die französische Nationalversammlung in Vichy dem Programm einer „nationalen Revolution“ zustimmte, war eine neue Wirtschaftsordnung zentrales Element der Reformvorhaben. Ideologisch stand dabei nicht der italienische Faschismus oder das nationalsozialistische Regime in Deutschland, sondern die portugiesische Diktatur António de Oliveira Salazars Pate. Insbesondere der portugiesische Korporativismus, der seit Annahme der Verfassung des „Estado Novo“ 1933 Wirtschaft und Staat enger aneinander binden sollte, galt unter Anhängern des Vichy-Regimes als Modell für die eigenen Bestrebungen einer wirtschaftlichen Neuordnung. Maréchal Pétain selbst war ein Bewunderer Salazars und besaß dessen Schrift: Como se levanta um Estado (1937) in einer französischen Übersetzung, in der Salazar seine Regierungsmaßnahmen als "Aufrichtung eines Staates" darstellte. Die in Portugal seit Mitte der 1930er Jahre beginnende Verpflichtung von Unternehmern zur Mitgliedschaft in staatlich errichteten Grêmios, um Funktionen der Wirtschaftspolitik zu übernehmen, wurde ab Sommer 1940 auch in Frankreich eingeführt. Hier sollten sich alle französischen Unternehmer einer jeweiligen Branche in Comités d’organisation zusammenschließen.
Die Orientierung Frankreichs an Portugal in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren erscheint angesichts einer verbreiteten Deutung der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie in Europa überraschend: Der Begriff Südeuropa bezeichnet in dieser Perspektive den Umstand, dass Länder wie Portugal, Spanien oder Griechenland aufgrund eines Überhangs autoritärer politischer Traditionen und eines nur unvollständiges Übergangs in die kapitalistische Marktwirtschaft gegenüber der Moderne in Westeuropa rückständig geblieben sind. Im Anschluss an die Arbeiten des Politikwissenschaftlers Philippe Schmitter sind insbesondere die staatlich verordneten korporatistischen Strukturen als Instrumente einer autoritären Herrschaft verstanden worden. Demnach hat u.a. der portugiesische Staat korporative Monopole der wirtschaftlichen Interessenvertretung geschaffen, durch die das Verhältnis gesellschaftlicher Klassen zueinander von oben reguliert und ihre politischen und wirtschaftlichen Bestrebungen auf die Verteidigung staatlich zugesprochener Rechte umgelenkt werden konnten. Auf diese Weise war es laut Schmitter möglich, Diktatur und kapitalistische Wirtschaft miteinander zu vereinbaren.
In dem Forschungsvorhaben soll diese Einschätzung hinterfragt und die historische Entwicklung der Beziehung von Diktatur, Kapitalismus und Demokratie in Süd- und Westeuropa neu bewertet werden. Die staatliche Förderung korporativer Organisaionen in Portugal und Frankreich wird in dem Projekt nicht als Mittel zur Begrenzung und Kanalisierung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen verstanden, sondern als gescheiterter Versuch interpretiert, sozio-ökonomische Gruppen nach den Bedürfnissen eines autoritärer Regimes umzuformen.
Es wird von der These ausgegangen, dass die Beteiligten die Grêmios und Comités d’organisation als Institutionen nutzten, um eine Form wirtschaftlicher Selbstverwaltung aufzubauen, die - statt den Einfluss staatlicher Stellen auf das wirtschaftliche und politische Handeln sozialer Akteure sicherzustellen – zumindest in Teilen unabhängig von den Vorgaben der Regime funktionierte.
Damit entstanden Formen eines koordinierten Kapitalismus, in denen man eine zentrale Stütze der Demokratien in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ausgemacht hat.