"Social Capital" im Umbruch europäischer Gesellschaften
Das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) ist an einem Forschungs- und Kommunikationsverbund beteiligt, der die Fragen des Überlebens in Gesellschaften des Umbruchs ins Zentrum stellt. Dieser Forschungszusammenhang wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmes eines Programms "Geisteswissenschaften im Dialog" gefördert. Das Ziel dieser Initiative des Ministeriums besteht darin, neue Wege und Formen zu erkunden, wie sozialwissenschaftliches Wissen ins öffentliche Gespräch kommen kann. Dahinter steht der Gedanke, dass die hergebrachten Vermittlungsformen des Subsystems Wissenschaft allzu oft in der Selbstreferenz der wissenschaftlichen Kommunikation verbleiben. Dies gilt es zu ändern, gerade in Zeiten, in denen die Gesellschaft von starken Umbrüchen und Ungleichzeitigkeiten geprägt zu sein scheint und die Öffentlichkeit nach Deutungen aus den dafür vorgesehenen Disziplinen fragt. In was für einer Gesellschaft leben wir? Welche Gruppen gehören zu den Gewinnern, welche zu den Verlierern des sozialen Wandels? Haben wir es mit neuen Formen der sozialen Spaltung in unserer Gegenwartsgesellschaft zu tun?
Fragen dieser Art sind eben nicht nur von akademischem, sondern von eminent gesellschaftlichem Interesse. Die Zeiten, als die Ökonomie sich zur Hegemonialdisziplin aufschwang, sind vorbei. Dass der Markt alles richten würde, dass die Individuen in ihren Kalkulationen nur optimiert werden müssten, um im Ganzen eine vernünftigere Gesellschaft einzurichten, daran glaubt im Grunde niemand mehr. Aber auch Kultur als ein Gegenbegriff zum Markt vermag nicht länger zu überzeugen, denn auch Kultur kann ein Argument für Rückzug und Borniertheit sein. Wer auf seine Kultur pocht, will oft Privilegien verteidigen oder Ansprüche formulieren. So hat der Begriff der Gesellschaft eine neue Attraktivität gewonnen. Die Probleme von Macht und Herrschaft, von Einschluss und Ausschluss, von Privilegierung und Unterprivilegierung scheinen die Dynamik unserer Gegenwart mehr zu treffen als die ausgetretenen Pfade einer Gegenüberstellung von Markt und Kultur.
Vor diesem Hintergrund nimmt der Projektverbund die Frage nach dem Überleben als Frage des Durchkommens, Zu-Rande-Kommens und Über-Wasser-Bleibens unter den Bedingungen drohender Degradierungen, erlittener Zurückweisungen und erlebten Ausschlusses auf. Es konzentriert sich auf einen bestimmten Ort, an dem sich Fragen dieser Art verdichten. Das ist die Stadt Wittenberge, die an der ICE-Strecke zwischen Berlin und Hamburg liegt. Wittenberge war seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein europäisches Zentrum der Nähmaschinenproduktion Erst Singer unter kapitalistischen und dann Veritas unter sozialistischen Bedingungen. Rund um das Produkt Nähmaschine hatte sich ein industrielles Cluster gebildet, das - über die Eisenbahn logistisch angeschlossen - durch einen ambitionierten sozialen Wohnungsbau städtisch hergerichtet und durch Traditionen einer einschlägig geschulten „manpower“ produktiv abgesichert war. Dieser ganze industrielle Kontext ist Anfang der 90er Jahre nach der Wende in Ostdeutschland mit einem Schlag nieder gebrochen. Die Arbeit ist verschwunden, aber die Menschen sind noch da. Wie lebt es sich hier? Wie verarbeitet die Stadt die Geschichte einer abrupten Deindustrialisierung? Was tun die Menschen, um sich ihre Selbstachtung zu bewahren?
Es macht die Spezifik des Verbundprojekts aus, dass es neben die wissenschaftliche eine künstlerische Perspektive stellt. Es sind nicht nur Soziologen und Ethnologen, sondern gleichzeitig Stückeschreiber und Kunstperformer, die diesen exemplarischen Ort zu ihrem Gegenstand machen.
Was sieht der Künstler, was blendet die Wissenschaftlerin aus? Was erkennt die Wissenschaftlerin und wo hat der Künstler seinen blinden Fleck? „Überleben“ wird von beiden Perspektiven als eine Praxis verstanden, die mit Mangel zu tun hat, die nur „schwache Interessen“ ausbildet und die die Leute ins Herz trifft.
Es sind verschiedene Aspekte, unter denen die Fragen des Überlebens in den Blick gerückt werden: Das Teilprojekt des Hamburger Instituts kümmert sich um die Rolle von Charisma in der Stiftung von Überlebenszusammenhängen, ein anderes rückt die Familie als natürliche Institution des Überlebens ins Licht. Weiterhin widmet sich ein Projekt der Suche nach Formen der Subsistenz im Überleben, ein anderes geht der Rolle des Mistrauens in der Schicksalsgemeinschaft „der Zurückbleibenden“. Im Zentrum des letzten Projekts steht schließlich die Frage der Gemeinschaftsbildung unter den Bedingungen der Deindustrialisierung.
Wissenschaftler und Künstler arbeiten dabei auf Tuchfühlung. Ein gemeinsamer Begriff ist der der Performanz, der auf verschiedene Arten der Riten des Alltages, Techniken der Fingierung und Formen des Widerstands aufmerksam macht. Was die Wissenschaft in Form von Portraits einfängt, versucht das Theater in Stücke zu fassen, die „mit den Füßen geschrieben“ sind.
Gemeinsam wird nach Überschneidungen, Diskrepanzen und Gegenüberstellungen dieser beiden Perspektiven im Blick auf die öffentliche Thematisierung von Formern menschlicher Lebensweisen gesucht, die sich nicht auf der sonnigen Seite der Straße abspielen. Was tun die Menschen, wovon träumen und woran scheitern sie? Im Rahmen einer solchen Recherche lässt sich der Sinn für eine Ungerechtigkeit schärfen, für die es weder klare Lösungen noch eindeutige Zuschreibungen gibt. Der gesamte Projektzusammenhang arbeitet an einem Begriff der Politik, der die hergebrachten Formen des politischen Krisenmanagements unterläuft. Dieser Begriff der Politik zielt auf eine Rekonstruktion von Modellen, die im unmöglichen des Möglichen, in dem Scheitern das Glückende offen legen.
(Stand Oktober 2008)
Die beteiligten Institutionen und die Projektleiter
Brandenburg-Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS e.V.), Dr. Michael Thomas, Pettenkofer Str. 16-18, 10247 Berlin
Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für europäische Ethnologie, Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba, Dr. Ina Dietzsch, Dominik Scholl, Mohrenstr. 41, 10117 Berlin
Maxim Gorki Theater Berlin, Andrea Koschwitz, Am Festungsgraben 2, 10117 Berlin
Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.V., Andreas Willisch, Dudel 1, 17027 Bollewick
Universität Kassel, FB Gesellschaftswissenschaften / Fachgruppe Soziologie, Prof. Dr. Heinz Bude, Nora Platiel-Str. 1, 34109 Kassel
Hamburger Institut für Sozialforschung, Prof. Dr. Heinz Bude, Mittelweg 36, 20148 Hamburg
Email senden