Die Protest-Chronik. Teil II: 1960 bis 1969

Projektstart: April 2002

Kein anderes Jahrzehnt ist so durch Protestbewegungen geprägt wie die 1960er Jahre. Von den Ostermärschen gegen die Aufrüstungspolitik im Kalten Krieg über die Aktionen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die sich von Berkeley bis Tokio weltweit ausbreitenden Studentenbewegungen bis hin zum "Prager Frühling" und einer Rebellion wie dem "Pariser Mai" reicht das Spektrum. Ihre Formen, ihre Dynamiken, die Multiplikatorenrolle der Massenmedien, das Selbstverständnis ihrer Akteure haben sich in dieser Zeit maßgeblich verändert. Zugleich stieß manche der gewählten Mobilisierungsformen an politische Grenzen. Nicht ohne Grund kristallisierten sich dabei Fragen wie die nach der politischen Legitimität, der Legalität, der Beziehung zu Demokratie und Rechtsstaat und nicht zuletzt dem Verhältnis zur Gewalt heraus.

Das Projekt will die Vielfalt an Protestformen, ihre sozialen und kulturellen Facetten präzise erfassen und verfährt streng mikrologisch. Die Protest-Chronik orientiert sich im weitesten Sinne an Einzelereignissen des Dissenses, der Abweichung von der jeweils vorgegebenen politischen Ordnung. Sie sammelt solche Vorfälle, wertet sie aus und stellt sie in möglichst komprimierter, aber auch akzentuierter Form dar. Obwohl streng an der historischen Empirie orientiert, stellt sie keine Dokumentation dar. Was den Chronisten vom Dokumentaristen unterscheidet, ist die Optik. Der Chronist ist auf der Suche nach dem in einem Sachverhalt verborgenen Narrativ.

Protest ist ein positioneller Begriff. Er richtet sich gegen einen Missstand, deckt auf, klagt an, macht öffentlich. Protest an sich macht keinen Sinn. Er entsteht nicht im luftleeren Raum. Nur in Beziehung zu etwas, in kritischer, oppositioneller oder gegnerischer Haltung zu einem Machthaber oder einer Machtinstanz gewinnt er seine Bedeutung. Wer nach einem Ereignis des Protests fragt, der erwartet zugleich Auskunft über das Gegenüber, den- oder diejenigen, an die sich der Appell, die Aufforderung, zuweilen auch Drohung, richtet. Damit kommt eine Person, Institution oder Organisation ins Spiel, ein Ausschnitt des politischen Systems, in dem Appellierende und Handelnde aufeinander bezogen sind. In dieser Konstellation geht es um Problemstellungen, um Mängel, Widersprüche, Krisen- und Gefahrenherde. Insofern ist der Protest immer schon eingebunden in das System, in dem er auftritt. Er ist negativ eingebunden, indem er sich gegen einen Mangel oder Missstand richtet; er ist positiv eingebunden, indem er auf dessen Behebung, Überwindung oder Veränderung abzielt.

Unter Protest wird insofern eine Form des öffentlichen Auf- oder Eintretens für eine partikulare gesellschaftliche Zielsetzung verstanden, mit der ein Missstand behoben, eine drohende Gefahr abgewendet oder allgemeiner eine Veränderung herbeigeführt werden soll. Subjekt des Protests ist eine Assoziation von Individuen, Gruppen und/oder Organisationen. In ihr gibt es weder eine Mitgliedschaft, eine anders definierte Formalisierung der Zugehörigkeit, noch normativ abgesicherte Verhaltensregeln. Eine Teilnahme an den entsprechenden Aktivitäten steht prinzipiell allen Interessierten offen. Der Anschluss an einen Protestzusammenhang kommt vor allem durch Kommunikationsprozesse zustande. Kommunikation ist das wesentliche Medium, über den er sich konstituiert. Ob Befragung, Erörterung, Diskussion, Debatte, Kontroverse oder Streit – in all ihren Formen trägt sie dazu bei, dass sich die entsprechenden Konturen bilden, vorhandene Strukturen mit anderen vernetzen und weiter ausdifferenzieren. Der Protest setzt gerade auf die Durchlässigkeit seiner sozialen Struktur. Demonstrativ wird seine Offenheit bekundet; er soll integrieren, mobilisieren und anwachsen.

Wer die Subjekte des Protests sind, welche Bündnisse eingegangen werden, um eine größere Durchschlagskraft zu erzielen, das hängt nicht zuletzt vom Adressaten oder Gegner ab, davon, gegen wen sich der Protest richtet. Dieses Gegenüber, eine Person, Personengruppe oder Instanz verfügt in der Regel über die Macht, um die gewünschte Veränderung herbeizuführen. Die Protestaktivitäten haben vor allem das Ziel, das existierende Machtgefälle auszugleichen. Die in ihnen zum Ausdruck kommende Phantasie resultiert nicht zuletzt aus dem Versuch, immer wieder neue Mittel und Wege zu ersinnen, um ein ausreichendes Maß an Handlungskompetenz zu gewinnen und die vorgefundene Diskrepanz aufzuheben.

In Auswahl und Darstellung gibt es keine Beschränkung durch die Fixierung auf eine einzige politische Richtung. Linke und Liberale, Konservative und Rechte kommen darin ebenso vor wie die Repräsentanten von Positionen, die sich nicht fest zuordnen lassen. Entscheidend ist allein, ob sie als Träger oder Adressaten von Protestaktivitäten auftauchen. Gerade weil die Links-Rechts-Axiomatik von so zentraler Bedeutung für die Polarisierung, Mobilisierung und Konfliktaustragung ist, wird keine Beschränkung nach Kriterien politischer Positionsbestimmungen vorgenommen.
In die Chronik werden Entscheidungen, Reaktionen und Positionsveränderungen im Staat und seinen Organen, in den Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Medien, im Justiz- und Verwaltungsapparat aufgenommen, sofern sie sich auf den Protest in mittelbarer oder unmittelbarer Form beziehen.

Einerseits konzentriert sich die Protest-Chronik auf Ereignisse in der Bundesrepublik und in der DDR, andererseits aber präsentiert sie auch die wichtigsten Geschehnisse im internationalen Zusammenhang. Weder eine Beschränkung auf die Bundesrepublik noch eine auf beide deutsche Staaten würden dem Gegenstand gerecht. Ohne die transnationalen Beziehungen ließen sich die Proteste der 1960er Jahre nicht angemessen begreifen. Vielleicht war es sogar die Transnationalität, die den Akteuren jener Zeit ihren stärksten Stempel aufgedrückt hat.

(Stand Juli 2010)