Die „Hähle-Fotos“:
Der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung von Kiew und Lubny aus der Sicht eines Propagandakompanie-Fotografen der Wehrmacht
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Фотографії Йоганнеса Геле - версія українською
Im Juni 2000 erwarb das Hamburger Instituts für Sozialforschung ein Konvolut von Originalfotos aus dem Nachlass des Wehrmachts-Fotografen Johannes Hähle. Der Bestand enthielt 29 Farbdias, die den Massenmord an den Kiewer Juden in Babyn Yar am 29. und 30. September 1941 und die Arbeiten zur Spurenbeseitigung in der Schlucht Anfang Oktober dokumentieren; 38 Schwarz-Weiß-Negative, die am Sammelplatz der jüdischen Bevölkerung von Lubny am 16. Oktober 1941, kurz vor den dortigen Massenerschießungen aufgenommen wurden; ferner mehrere Negativfilme von Luftbildaufnahmen der zerstörten ostukrainischen Stadt Charkiw, vermutlich aus dem Frühjahr oder Frühsommer 1942.
Die Fotos aus Kiew/Babyn Yar und aus Lubny stehen zum Download zur Verfügung.
Der Fotograf und die Entstehung der Aufnahmen
Johannes Hähle wurde am 15. Februar 1906 in Chemnitz geboren. Er trat 1932 der NSDAP bei. Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde er zur Wehrmacht eingezogen. Ab Januar 1941 diente er zunächst im Baubataillon 146 im Westen und wurde dann, zum 1. Juli 1941, zur Propagandakompanie 637 an die Ostfront versetzt. Offenbar mit fotografischer Ausbildung – oder zumindest mit guten fotografischen Kenntnissen – begleitete er dort als „Bildberichterstatter“ den Vormarsch der 6. Armee mit der Kamera.
Die vorliegenden Aufnahmen aus Kiew und in Lubny dürfte Hähle im Herbst 1941 allerdings nicht in offizieller Funktion, sondern als privater Beobachter gemacht haben, jedenfalls gibt es keine Nachweise für eine Beauftragung durch die Propagandakompanie. Den Fotos von den Aufräumarbeiten nach dem Massaker in der Schlucht von Babyn Yar folgen zunächst Aufnahmen von Frauen, die vor dem Lager sowjetischer Kriegsgefangener warten, dann Straßenszenen aus Kiew und beinahe touristisch anmutende Fotos von Gebäuden. Offizielle Bilder hätten samt Negativen an die entsprechenden Wehrmachtsdienststellen abgeliefert werden müssen. Hähle aber lieferte diese Fotos nicht ab.
Selbst Angehörigen der Propagandakompanien war es verboten, Aufnahmen von Exekutionen und anderen Gewaltexzessen anzufertigen. Hähle hielt sich formal an die Vorgaben, er fotografierte in Babyn Yar und Lubny zwar das unmittelbare „Davor“, „Daneben“ und „Danach“, nicht aber die Erschießungen selbst. Dennoch sind die Fotos wichtige Dokumente des Mordgeschehens. Die Aufnahmen wären, wenn sie der Propagandakompanie bekannt geworden wären, sofort eingezogen und zerstört worden. Wie und wo Hähle die Filme entwickelte und wie sie nach Deutschland gelangten, ist ungeklärt.
Zur Überlieferungsgeschichte
Johannes Hähle fiel im Juni 1944 an der Westfront; die Aufnahmen aus Kiew, Lubny und Charkiw verblieben bei seiner Witwe. Da Frau Hähle fürchtete, wegen des Besitzes der Fotos in das Visier der Staatssicherheit zu geraten, veräußerte sie die Bilder im November 1954 an den Westberliner Journalisten Hans Georg Schulz. Dieser wiederum schickte 1961 Schwarz-Weiß-Abzüge an westdeutsche Justizbehörden in der Hoffnung, die Fotos könnten in Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen Verwendung als Beweismittel finden, konkret in den von der Frankfurter Staatsanwaltschaft geführten Prozessen.
In dieser Funktion wurden die Aufnahmen aber nie genutzt; wohl bei den Justizbehörden fehlerhaft abgelegt, tauchten die Schwarz-Weiß-Fotoabzüge zunächst lediglich zusammenhangslos in anderen Verfahren oder in Schulungsmappen auf, bevor sie im Zuge turnusmäßiger Abgaben von den Ermittlungsbehörden und Gerichten und über Anwälte unter anderem ins Hessische Hauptstaatsarchiv gelangten. Seit den späten 1980er Jahren wurden sie vereinzelt für Buch- und Fernsehpublikationen aufgegriffen, allerdings ohne, dass angemessen auf Herkunft, Entstehungsgeschichte und Kontext der Aufnahmen eingegangen wurde.
Die wertvollen Originale – unter anderem seltene frühe Farb-Diafilme der Marke „Agfacolor“ – hielt Schulz, von der Ignoranz der Justizbehörden enttäuscht und gar bewusste Vertuschung vermutend, für Jahrzehnte zurück. Als er Anfang der 1990er Jahre noch einmal einen Vorstoß wagte und die Aufnahmen dem Magazin „Stern“ zur exklusiven Erstveröffentlichung anbot, lehnte die Redaktion ab.
Noch in der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht“, Mitte der 1990er Jahre, waren nur die ursprünglich an die Justizbehörden geschickten Schwarz-Weiß-Kopien zu sehen.[1]
Erst im Zuge der Recherchen zur zweiten Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges“ gelang es dem Hamburger Instituts für Sozialforschung, die Originalfotos wiederzuentdecken und im Juni 2000 von Schulz‘ Witwe zu erwerben. Von 2001 bis 2004 wurden die Bilder aus Babyn Yar und Lubny, nun in korrekter chronologischer Abfolge und umfassend kontextualisiert, in der Ausstellung gezeigt; die Aufnahmen aus Babyn Yar dabei erstmalig im farbigen Original.[2]
Seitdem befinden sich die „Hähle-Fotos“ im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung und sind dort für die Forschung zugänglich. Als eindrucksvolle Zeugnisse der von Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei, den Polizeibataillonen der Höheren-SS-und-Polizei-Führer und nicht zuletzt den Wehrmachtsverbänden bis hin auf die lokale Ebene der Stadtkommandantur vorangetriebenen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion wurden und werden sie neben der wissenschaftlichen Nutzung auch vielfach für die Gedenkstätten- und Bildungsarbeit sowie für Ausstellungs- und Publikationszwecke angefragt.
Zur freien Verwendung
Seit 2014 – mit Ablauf von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers – sind alle von Johannes Hähle gemachten Aufnahmen urheberrechtsfrei. Das Hamburger Institut für Sozialforschung hat sich in den vergangenen sieben Jahren dennoch vorbehalten, Digitalisate nur verbunden mit einer Nutzungsvereinbarung für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen, um einen angemessenen, die Würde der Ermordeten wahrenden Umgang mit den Aufnahmen zu gewährleisten.
Für die Verwendung im Rahmen des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus sowie der historisch-politischen Bildung war die Zurverfügungstellung kostenfrei. Vollständige Kopiensätze wurden u.a. der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und Museen und Gedenkeinrichtungen in Kiew für den Verbleib in den dortigen Sammlungen überlassen.
Mit der zunehmenden digitalen Nutzung der Bilder ist es inzwischen nicht mehr möglich, die Verwendung und Weiterverbreitung nachzuvollziehen. Zu oft tauchen nicht lizensierte Kopien im Netz auf – verschiedentlich unter fehlender oder falscher Herkunftsangabe, oder mit irreführender Beschreibung –, als dass das Hamburger Institut für Sozialforschung, gleichsam als Hüterin der Bilder, weiterhin eine Verantwortung für die dem Inhalt angemessene Verwendung übernehmen könnte. Gleichzeitig sind die Fotos als Kulturerbe der Menschheit zu verstehen, die der Erinnerung und Mahnung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Gedenken an die Opfer des Massenmords dienen können und sollen.
Deshalb stellt das Hamburger Institut für Sozialforschung die Fotoserien zu Babyn Yar und zu Lubny nun im Standardformat zum freien Download zur Verfügung. Sie verpflichten sich mit dem Download lediglich, bei der Verwendung die Herkunftsangabe „Hamburger Institut für Sozialforschung“ anzugeben.
23.11.2021
(29 Farbaufnahmen von Johannes Hähle)
(38 s/w-Aufnahmen von Johannes Hähle)
Anlässlich des 20. Jahrestags der Eröffnung der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskriegs 1941-1944" erschien im Oktober 2021 ein Themenheft der Zeitschrift Mittelweg 36: »Verbrechen der Wehrmacht«. Anmerkungen zu einer Ausstellung (Heft 5-6 Oktober/November 2021).
Eine Neuauflage des Katalogs zur zweiten Wehrmachtsausstellung ist im Oktober 2021 bei der Hamburger Edition erschienen.
[1] Vgl. Katalog zur ersten Wehrmachtsausstellung, 1995-1999. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition, 1. Auflage, 1996, S. 78-79 und 81-83.
[2] Vgl. Katalog zur zweiten Wehrmachtsausstellung, 2001-2004. Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944. Hamburg: Hamburger Edition, 1. Auflage, 2002, S. 164-165 und 167-173.