Der Staatsbildungsprozeß in der Türkei
(Stand März 2002)
In der Arbeit werde ich versuchen, die Palette der verschiedenen Problembereiche des Staatsbildungsprozesses der Türkei zu analysieren. Die zentrale These ist, daß die Türkei aufgrund mehrerer innerer und äußerer Faktoren vor einem Scheideweg steht. In der Arbeit werden die innerhalb der Sozialwissenschaften gewöhnlich als "internationale Beziehungen" abgehandelten Entwicklungen der Staatenfigurationen nicht als ein Prozeß, der außerhalb der türkischen Gesellschaft stattfindet, sondern als ein Teilaspekt des gesellschaftlichen Prozesses bzw. als ein Komplementärprozeß zu diesem betrachtet. Ein bedeutsamer "äußerer Faktor" ist der Zerfall der Sowjetunion und die sich daraus ergebende neue Perspektive für die Türkei. Ich bezeichne diesen Komplex als "die Renaissance der Orientfrage".
Die Orientfrage, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch die Diplomatie der europäischen Staaten beschäftigt hatte, wurde als solche erst durch den Ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution gelöst. Durch den Zerfall der Sowjetunion, am Ende des 20. Jahrhunderts, die den Entstehungs- und Grenzziehungsprozeß der neu entstandenen Nationalstaaten maßgeblich beeinflußt hatte, ist das Gleichgewicht in der gesamten Region ins Wanken geraten. Die beim damaligen Verteilungsprozeß nach eigener Ansicht zu kurz gekommenen Völker und Staaten erheben nun alte und neue Ansprüche.
Als "innere Faktoren" betrachte ich die Aspekte, die auf eine Vertrauenskrise zwischen Staat und Gesellschaft hinweisen. Ich beschreibe diesen inneren Entwicklungsstrang als "zweiten Ethnisierungsprozeß". Eine Folge dieses Prozesses ist, daß die tragenden Säulen, auf die die Republik gegründet wurde, das Staatsgebilde nur noch schwerlich zusammenhalten (beispielsweise durch die permanente Intervention des Militärs in die Politik). Es entstand somit ein großes Gefälle zwischen Staat und Gesellschaft, was in gewisser Hinsicht ein Fortdauern des im Osmanischen Reich vorherrschenden Verhältnisses bedeutet.
Man kann die Türkei als "einen Staat ohne Volk" beschreiben. Wie es zu so einer Entwicklung kommen konnte, soll in der Arbeit diskutiert werden. Auf unterschiedlichen Ebenen sollen die Struktureigentümlichkeiten der türkischen Gesellschaft analysiert und erläutert werden.
Das Projekt wurde im März 2002 am Hamburger Institut abgeschlossen und wird extern fortgeführt.