Die "Überflüssigen"
(Stand Juli 2002)
Das Projekt befaßt sich mit der Frage nach neuen sozialen Ungleichheiten. Mit dem Begriff der "underclass" aus den USA und dem der "Exclusion" aus Frankreich verfügt die internationale Debatte schon über entsprechende neue Beschreibungen, die allerdings auf die Situation im vereinigten Deutschland nicht recht zu passen scheinen. Mit dem Begriff "Die Überflüssigen" wird versucht, vergleichbare Ausschlußsituationen im deutschen Wohlfahrtsstaat zu benennen. Als überflüssig gelten jene Gruppen von Menschen, die bei einer sozialstrukturellen Neuformation der Klassen einer Gesellschaft keiner Klasse zugezählt werden können und die sich auch selbst keiner Klasse von Bürgern mehr zugehörig fühlen. Um solche vorwiegend wirtschaftlich vorangetriebenen Wandlungsprozesse rekonstruieren zu können, wird auf eine Theorie von Lebenskonstruktionen zurückgegriffen, die es erlaubt, auf der Ebene der Individuen sozialen Wandel verfolgen zu können. Überflüssigkeit bedeutet demnach lebenskonstruktiv, daß die Menschen sich in der Situation vorübergehender Unentscheidbarkeit befinden (eben wohin sie gehören). Es geht dabei nicht um schwarze Löcher oder grundsätzlich Ausgeschlossene, auch nicht um jene Sozialhilfeempfänger oder Langzeitarbeitslose, die andere Exclusions-Ansätze im Auge haben, als Sonderform der Marginalisierung beispielsweise. Marginalisierung ist eine soziale Tatsache jeder hauptsächlich kapitalisitischen Gesellschaft, während Überflüssigkeit ein Phänomen sozialen Wandels ist. Es kann in sozialer Marginalisierung enden, muß aber nicht. Es umfaßt auch jenes gesellschaftliche Potential, daß frei wird für neue Entwicklungen, neue gesellschaftliche Arrangements. Die These ist, daß sich am Umgang mit den sogenannten Überflüssigen die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft zeigt.
Überflüssigkeit hat ihre Ursache nicht darin, daß jemand für eine bestimmte Zeit keine Arbeit hat, daß ein anderer Sozialhilfe bezieht, daß man Spätaussiedler, Geringqualifizierter oder junge, alleinerziehende Mutter ist. Das sind Risikokategorien mit denen der Sozialstaat die vielgestaltigen sozialen Probleme kleinarbeitet. Dahinter verstecken sich verschiedene Lebensentwürfe und -konstruktionen, die nur zum Teil den Charakter der Unentscheidbarkeit offenbaren. Doch eignen sich sozialpolitische Kategorisierungen besonders gut, um das Versagen staatlicher Sozialpolitik den Empfängern von Transfermitteln selbst anzulasten. In jeder sozialpolitischen Kategorie finden wir das gesellschaftliche Verhältnis von Gewinnern, Verlierern und Überflüssigen in jeweils anderer Form reproduziert. Daher ist ein Leichtes, den vermeintlichen Faulenzern leidlich erfolgreichere Personen vorzuhalten.
In Zeiten rapiden gesellschaftlichen Wandels zerbrechen gewachsene soziale Beziehungen. Für einige Menschen bedeutet das die Chance, sich von alten Fesseln zu befreien, während anderen die Zumutungen der neuen Zeit umso schwerer auf den Schultern lasten. Doch zwischen den beiden stehen die Überflüssigen: freigesetzt und doch ausgeschlossen. Die Gesellschaft, die sich vor ihnen geöffnet hat, bietet ihnen keine weiterführenden Anschließungsmöglichkeiten, um ihre Lebenskonstruktionen neu arrangieren zu können. Die Überflüssigkeit ist ein unsichtbares Phänomen. Die Suche nach ihr erweist sich als schwierig. Wo sie auftritt im öffentlichen Bewußtsein, wird sie mit einem Label versehen, je nach dem, welches sozialpolitische Programm für zuständig erklärt wird. Auf dieses Weise wird eine Integration vorgegeben, von der wir nichts weiter wissen, als daß die Unterstützten über mehr oder weniger staatliche Transfermittel verfügen sollen. Das unmittelbare Problem scheint behoben, wenn die Programmkriterien nicht mehr erfüllt werden. Aber sowohl die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen als auch die der Sozialämter beispielsweise führen nicht zu einer wirklichen Integration, sondern sie verstärken unter bestimmten Umständen die angeschobenen Desintegrationsprozesse.