Wenn der Krieg nach Hause kommt

Gefahren und Strategien des Umgangs von Gesellschaften mit ihren Veteranen
Projektstart: September 2012

Gesellschaftliche Wiedereingliederung in der Geschichte

Wo es Kriege gab und gibt, stellt sich das Problem der gesellschaftlichen Wiedereingliederung von Kämpfern, ihrer Reintegration. Schon prähistorische Stammesgesellschaften kannten schamanistische Geistheilungsrituale, die den Krieger reinwaschen und ihm die Rückkehr in die Gemeinschaft ermöglichen sollten. Solche spirituellen Reintegrationsmaßnahmen werden in ähnlicher Form auch heute noch in Westafrika und Mosambik vollzogen.

Das antike Drama des Philoktet von 409 v. Chr. ist die erste künstlerische Bearbeitung der Reintegrationsproblematik von Veteranen. Im Altertum entwickelte vor allem das römische Gemeinwesen komplexe Versorgungs- und Reintegrationsprogramme für die aus dem Militärdienst ausscheidenden Legionäre: Gründungen von Veteranenkolonien, die Verteilung von Landparzellen und finanzielle Aufwendungen hatten über die Jahrzehnte hinweg ihre Konjunkturen.

Im Spätmittelalter lässt sich in der Aufstellung des ersten stehenden Heeres unter Karl VII eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für die zum Ende des Hundertjährigen Krieges stellungslos gewordenen Söldnerverbände erkennen, deren marodierende Veteranen nunmehr ihre ehemaligen Herren bedrohten.

Seit der Frühen Neuzeit begannen sich moderne Staaten des Problems zunehmend von einer sozialpolitischen Seite zu näheren: Die erste modern-staatliche Reintegrationspolitik lässt sich auf den Englischen Bürgerkrieg im 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Mit wachsender Komplexität ihrer Wiedereingliederungsprogramme nahmen sich Regierungen ihrer Veteranen nach den Napoleonischen Kriegen, dem Amerikanischen Bürgerkrieg, den beiden Weltkriegen und dem Vietnamkrieg an.

Wie man am Vorgehen internationaler Organisationen bei der Umsetzung so genannter EDR-Programme (Entwaffnung, Demobilisierung, Reintegration) sehen kann, führte diese langfristige Entwicklung zum Ende des 20. Jahrhunderts sogar zur Entstehung einer internationalen Wissenschaft, die sich  mit der Wiedereingliederung von Kombattanten und die Befriedung von Gesellschaften beschäftigt.

Forschungsinteresse

Trotz der universalhistorischen Bandbreite der Reintegrationsproblematik gibt es kaum vergleichende und systematische Literatur zu diesem Thema. Demgegenüber steht Vielzahl an Einzelfallstudien, insbesondere zur gesellschaftlichen Rolle von Veteranen der beiden Weltkriege. Die Forschungsdesiderate bestehen somit in der Untersuchung von Reintegration als historischem Strukturphänomen, ihrer Kategorisierung und Typologisierung, der Entwicklung eines analytischen Rahmens für ihr Studium und ihr Zusammenhang mit der Entstehung und Ausdifferenzierung von Gesellschaftsordnungen und Staatlichkeit. Diese Lücken will das hier vorgestellte Forschungsvorhaben schließen. In diesem Rahmen soll es eine Reihe spezifischer Forschungsfragen beantworten, die sich auf die Erfolgsbedingungen von Reintegrationsmaßnahmen, ihre historischen Voraussetzungen und Notwendigkeiten sowie ihre Wechselwirkung mit der Ausdifferenzierung von Gesellschaftsordnungen und Staatlichkeit beziehen.

In dem Projekt wird in zwei Schritten vorgegangen:

I. Zunächst soll ein theoretisches Modell zur Analyse von Reintegrationsprozessen entwickelt werden. Dieses Modell beinhaltet verschiedene Typen von Gefahren, die sich aus der erfolglosen oder ausbleibenden Reintegration von Veteranen ergeben können. Diese werden mit einem Set an Basisstrategien verknüpft, die Gesellschaften in der Vergangenheit entwickelt haben, um mit diesen Gefahren umgehen zu können.

II. In einem zweiten Schritt sollen entlang des Modells sechs historische Fallbeispiele aus der Neuzeit analysiert werden, die verschiedene (staatliche) Gesellschaften vom 17. bis zum 20. Jahrhundert umfassen.

I. Analyserahmen: Reintegration als historisches Strukturproblem

Unabhängig von der untersuchten Zeitspanne und anderen Variablen, wie der Kultur oder dem politischem System, lassen sich folgende Fragen zum Umgang organisierter Gemeinwesen (gemeint sind hier in der Regel Staaten) formulieren:

Welche Typen von Gefahren gingen historisch von nicht oder nur unzureichend reintegrierten Veteranen aus? Welche Arten von Strategien entwickelten Regierungen und politische Herrscher, aber auch die Gesellschaft als Ganzes in der Vergangenheit, um dieses Problem in den Griff zu bekommen?

Ohne bereits in detaillierte Fallstudien einzusteigen, lassen sich auf Basis von Sekundärliteratur und anhand kursorischer Einblicke in die Fallbeispiele fünf Typen von Gefahren über Jahrhundertgrenzen hinaus als dominant und wiederkehrend identifizieren:

  • Die Gefahr für Regierungen
  • Die Gefahr für das (staatliche) Gewaltmonopol
  • Die ökonomische Gefahr
  • Die Gefahr der Kriminalität
  • Die Gefahr von Gewaltkulturen

Reintegrationsstrategien können als Antwort auf diese Bedrohungen verstanden werden und auf verschiedenen Ebenen wirken. Sie können von spirituell-psychologischen, von sozioökonomischen, von politisch-militärischen und von kulturpolitischen Mitteln Gebrauch machen. Zugleich lässt sich in den Beispielen aus der Geschichte ein Set von Basisstrategien erkennen, die Gemeinwesen im Umgang mit ihren Veteranen verfolgen. Man könnte auch von "Reintegrationspfaden", die zu bestimmten Zeitpunkten eingeschlagen wurden, sich aber häufig überlagern und nicht gegenseitig ausschließen. Diese Basisstrategien umfassen ein Spektrum, das von Tabuisierung auf der einen, über Externalisierung/Remilitarisierung, Appeasement, Transformation, Assimilation bis zu Glorifizierung auf der anderen Seite reicht.

Mit seinem umfangreichen, epochenübergreifenden Geltungsanspruch wirft dieser Analyserahmen eine Reihe von Leitfragen auf, die für das gesamte Forschungsprojekt relevant sind:

Wie beeinflussten sich die historisch dominierenden Probleme und die von Gesellschaften eingeschlagenen "Reintegrationspfade" wechselseitig? Wann hatte was Erfolg? Neigen Gesellschaften in Abhängigkeit von Kultur und politischem System zu bestimmten Reintegrationsstrategien? Und nicht zuletzt: Lernen Gesellschaften von vergangenen Reintegrationserfahrungen?

II. Fallstudien: Die Reintegration von Veteranen in neuzeitlichen Staaten

In einem zweiten Schritt soll das vorgestellte Modell im Rahmen mehrerer neuzeitlicher Fallbeispiele angewandt und überprüft werden. Die zeitliche Einengung auf die Neuzeit wird vorgenommen, um eine gewisse Vergleichbarkeit der Analyseeinheiten (Staaten bzw. staatliche Gesellschaften) zu gewährleisten. Neben den bereits angesprochenen Leitfragen, die zunächst einen sehr breiten, universalgeschichtlichen Relevanzanspruch besitzen, sind für die Fallstudien einige weitere Aspekte von zentraler Bedeutung, die primär für moderne staatliche Gemeinwesen einen Erkenntnisgewinn versprechen:

Wann und weshalb begannen Regierungen in der Frühen Neuzeit, systematische und großangelegte Reintegrationsprogramme umzusetzen?
Welche Miss- und Notstände mussten hierbei adressiert werden?
In welchem Zusammenhang standen diese Vorgänge mit dem Erstarken des staatlichen Gewaltmonopols, der Ausdifferenzierung und Professionalisierung von Verwaltung und, schließlich, der Entwicklung von Zivilgesellschaft (z.B. in Verbindung mit Veteranen- und Kriegsversehrtenorganisationen).

Diese Fragen bieten für das 20. Jahrhundert zugleich einen Anknüpfungspunkt an eine wichtige These der neueren Forschung über die Veteranen der beiden Weltkriege, die eine Verbindung zwischen Veteranenpolitik und der Entstehung von Wohlfahrtsstaatlichkeit geltend macht.

Die Fallstudien sind hierbei so gewählt, dass sie nicht nur eine große Bandbreite der diskutierten Gefahren und Strategien des Umgangs mit Veteranen abdecken, sondern zugleich mehrere revolutionäre Innovationen und Wendepunkte in der neuzeitlichen Reintegrations- und Veteranenpolitik umfassen:

  • Der Englische Bürgerkrieg (1642-1649)
  • Die Amerikanische Revolution (1776-1783)
  • Die Napoleonischen Kriege (1792-1815)
  • Der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-1865)
  • Der Erste Weltkrieg (1914-1918)
  • Der Zweite Weltkrieg (1939-1945)

Die Analyse der historischen Fallbeispiele soll es ermöglichen, einen Bogen zu schlagen, der von ersten Versuchen frühneuzeitlicher Veteranenpolitik bis hin zur Vewissenschaftlichung und Internationalisierung von Reintegration im Rahmen von Peacebuilding und EDR-Programmen im ausgehenden 20. Jahrhundert führt. Weiterhin soll es die Untersuchung erlauben, Lehren aus der Geschichte der Reintegration mit Blick auf modernes Konfliktmanagement und friedenssichernde Politik in Nachkriegsgesellschaften zu ziehen.

(Stand November 2013)