Tagungen

Auserzählt. Narrative vom Ende und das Ende der Narrative

Ort am HIS | Beginn: 28.11.2024 14:30 Uhr

Zweites Forum Literatursoziologie

Organisation: Carolin Amlinger (Universität Basel), David-Christopher Assmann (Universität Bamberg), Urs Büttner (University of Oxford), Florian Schmidt (HIS)

„Wir leben in einer postnarrativen Zeit“, behauptete unlängst der Philosoph Byung-Chul Han (2023). Mit dieser Gegenwartsdiagnose reiht er sich nicht nur in eine in den vergangenen Jahren lauter werdende Kritik am Erzählen ein, sondern zugleich in ein neuerliches Aufleben von Endzeitprophetien. Die neuerliche Kritik aktualisiert vielfach Vorwürfe, die bereits in der Postmoderne-Debatte unter Bezug auf White (1973) und Lyotard (1979) geäußert wurden, und spitzt sie verkürzt und politisierend zu. Die Kritik schlägt Narrative entweder in Gänze der Erfindung zu und nähert sie dadurch Verschwörungstheorien an. Oder aber sie weist sie als zu einfache Erklärung zurück, weil sie eine gewisse Zwangsläufigkeit des Zusammenhangs herstellen. Story telling birgt, so die öffentliche Mahnung, ein immenses Verführungs- und affektives Identifikationspotential. Dadurch werden Narrative mehr und mehr als eine Technik der „Hyperpolitik“ (Jäger 2023) wahrgenommen, in der alles und jeder politisiert ist.

Weit weg scheint heute der ungeheure Aufschwung der akademischen Beschäftigung mit dem Erzählen um die Jahrtausendwende. Narrative wurden in dessen Folge als populäre und leistungsfähige Organisationsverfahren von Informationen wahrgenommen. Mehr noch, Gesellschaften und Subjektivitäten formierten sich im narrative turn über ihre Erzählungen (Amlinger 2023). An die fächerübergreifend geteilte Annahme, dass Gesellschaft erzählt wird, knüpfte sich die Aufgabe, Gesellschaft zu erzählen. Die Inflation der Narrative zog allerdings einen Verlust der Begriffsschärfe nach sich, und zeitigte letztlich eine Erschöpfung des Erzählens von Gesellschaft (Assmann 2023).

Dass manch einer nun angesichts seiner Omnipräsenz das Ende des Erzählens gekommen sieht, steht sicherlich im Zusammenhang mit der Eintrübung von Gegenwartsdiagnosen. Die multiplen, sich wechselseitig überlagernden globalen Krisen der Gegenwart, von der Erosion liberaler Demokratien bis hin zur Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel, hat das Bewusstsein einer Epochenzäsur geweckt. Wenn heute Wirklichkeit geworden ist, was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar schien, wird Zukunft schwer vorstellbar – und noch schwerer darstellbar. Die Gegenwart erscheint vielen als auserzählt. Zeitdiagnostik erschöpft sich in einer Aneinanderreihung von Post-Zuständen, die nur in der Abgrenzung von Vergangenem Kontur erhalten.

Dieses Problem steigert sich nochmals, wenn Gegenwart als Endzeit wahrgenommen wird, nach der die Geschichte vollständig endet (Bröckling 2023). Denn bewährte Narrative für ein ‚Danach‘ stehen nicht mehr zur Verfügung, weil religiöse Eschatologien und politische Utopien für viele Menschen ihre Überzeugungskraft eingebüßt haben (Büttner, Richter 2021). Das Ende des Erzählens bezeichnet hier die prinzipielle Unmöglichkeit, in Kontinuität zur Gegenwart und mit deren Darstellungsmitteln auf die Zukunft auszugreifen (Luhmann 1996).

Die Ausrufung einer postnarrativen Zeit folgt allerdings oftmals dem bekannten Muster apokalyptischer Prophetie. Sie nimmt ihren performativen Widerspruch bewusst in Kauf und will sich als self-destroying prophecy erweisen. Die Diagnose vom Ende des Erzählens erweist sich als Appell, über veränderte Darstellungsmittel der Gegenwartsdiagnostik und des Entwerfens von Zukunft nachzudenken, um das Eintreten des Endes hinauszuschieben oder ganz abzuwenden (Fœssel 2019).

An diese Einsichten soll die zweite Tagung des Forums Literatursoziologie anknüpfen, das dieses Mal am Hamburger Institut für Sozialforschung stattfindet. In interdisziplinärern Perspektive werden dort jüngere Gegenwartsdiagnostik und Endzeiterzählungen nach ihrem Zukunftspotenzial befragt. Beabsichtigt ist nicht zuletzt, sozialwissenschaftliche Untersuchungen einer erzählenden Gesellschaft mit literaturwissenschaftlichen Interpretationen von Gesellschaftserzählungen ins Gespräch zu bringen.


Programm:

Donnerstag, 28.11.24

14:30 Begrüßung
14:45 Achim Landwehr (Konstanz): Erzählen von/in porösen Zeiten
15:30 Tanja Prokic (München): Gegen das Ende. Anthropozän in pragmatischer Hinsicht

16:15 Pause

16:45 Sascha Michel (Frankfurt a. M.): Vom Leben in den Ruinen der Narration
17:30 Sebastian Lederle (Weimar): Die nicht-identische Gegenwart des Erzählens

Freitag, 29.11.24

10:00 Ulrich Bröckling (Freiburg): Invertierte Zukunft. Apokalypse ohne Eschaton
10:45 Rainer Hank (Frankfurt a. M.): „Davon geht die Welt nicht unter“. Wenn
Untergangserzählungen Fortschrittsgeschichten verdrängen

11:30 Pause

12:00 Sina Farzin (München): Vergewisserungsnotstand – Narrationen nuklearer Unfälle im Vergleich

12:45 Mittagspause

14:15 Christoph Engemann (Bochum): Von der großen Erzählung zur großen Kalkulation:
Computational Eschatologies
15:00 Stephanie Bremerich (Leipzig): Poetiken des Auserzählens: Reflexionen vom Ende der
Narrative in dystopischer Gegenwartsliteratur

15:45 Pause

16:15 Eva Geulen (Berlin): Erzählen lassen statt Erzählen

17:00 Pause

19:00 Öffentliche Podiumsdiskussion
Ohne Ende? Von letzten Generationen, Zeitenwenden und der Nachgeschichte
Carolin Amlinger (Basel), Ulrich Bröckling (Freiburg) und Juan S. Guse (Köln),
moderiert von Jens Bisky (Hamburg)

Samstag, 30.11.24

09:30 Niels Werber (Siegen): Ereignis und Erregung. Postnarrative Kommunikation
10:15 Nina Boy (Fulda): The return of the real

11:00 Pause

11:15 Laura Wolters (Hamburg): Archäofuturismus. Rechte Erzählungen vom Ende – und von dem,
was danach kommt
12:00 Sophie Witt (Hamburg): Ende der Gesellschaftskritik? Gegenwartserschöpfung (in) der
Literatur
12:45 Abschlussdiskussion
13:00 Ende