Politische Ideengeschichte der Bundesrepublik
Dieses Projekt versteht sich als Work in Progress. Bisher ist eine Überblicksstudie "Die Bundesrepublik als Idee" (Hamburger Edition, 2009) entstanden sowie zahlreiche Aufsätze, die bestimmte Theoretiker (u.a. Jürgen Habermas, Dolf Sternberger, Theodor Eschenburg, Hans Magnus Enzensberger, Hermann Lübbe, Karl Jaspers) untersuchen oder sich verschiedenen Themenaspekten (Liberalismus, Staatsdenken, Bürgertugend) der bundesrepublikanischen Ideengeschichte widmen. Die Arbeiten in diesem Forschungsgebiet werden fortgesetzt.
In dem Projekt soll der politische Ideenhaushalt der Bundesrepublik sowohl unter identifikatorischen Gesichtspunkten als auch hinsichtlich politiktheoretischer Aspekte analysiert werden.
Dabei ist vor allem die Dynamisierung politischer Diskurse im Zuge der aufkommenden Protestbewegungen in den 1960er Jahren zu berücksichtigen. Wenngleich die Neue Linke in ihren vielen Unterströmungen keinen alternativen Ordnungsentwurf anbieten konnte, so hat sie doch die politische Kultur der Bundesrepublik entscheidend verändert. Indem sie der funktionierenden parlamentarischen Demokratie die Legitimationsfrage stellte, wirkte (wider eigene Intention) sie als Katalysator der Verständigung über die geistigen Grundlagen des westdeutschen Staates. Die intellektuellen und politischen Debatten über den Staat sind allerdings nicht nur von historischem Interesse. In diversen Streitthemen findet sich eine essentielle „Vorratsreflexion“ (Heinz Bude), d.h. auch bisher ungenutzte Bestände politisch-theoretischen Denkens, die es neu zu evaluieren gilt – sei es zur Zukunft des Wohlfahrtsstaat, zu Fragen des Bürgerengagements, der Effizienzsteigerung des politischen Systems, zu politischen Gerechtigkeit oder zur Sicherung bürgerlicher Freiheiten.
Das westdeutsche „Provisorium“ galt lange als ein „Staat ohne geistigen Schatten“ (Altmann). Hatten manche in der Adenauer-Ära eine politische Debattenkultur vermisst. , so wurden die 1960/70er Jahre als Durchbruch zur modernen verwestlichten Gesellschaft gedeutet.
Diese Perspektive haben bislang vor allem die Sozialgeschichte und die Soziologie in Frage gestellt und diagnostizierten Amerikanisierung und Liberalisierung schon für die Lebensstile der 1950er Jahre. Die politischen Ideen bzw. die Vorstellungen vom Gemeinwesen standen dabei im Schatten des gesellschaftlichen Paradigmas. Mit Ernst Forsthoff waren viele der Meinung, dass die moderne Industriegesellschaft keiner „geistigen Selbstdarstellung“ mehr bedürfe und ohne normative Staatsidee auskomme, mithin aufgehe in der funktionalen Problembewältigung gesellschaftlicher und ökonomischer Missstände. Es hat sich gezeigt, dass die von rechts befürwortete, von links angemahnte Entwicklung hin zur Entpolitisierung der Gesellschaft nicht eingetreten ist. In einem Gemeinwesen wird weiterhin um soziale Kohäsion, politische Integration, aber auch um Formen der kollektiven Identität gestritten. In diesen vitalen Diskussionen kommt es auf politische Ideen und Perzeptionen an, die Diskurse strukturieren und prägen.
Idealtypischerweise ist die ideenhistorische Plausibilisierung der bundesrepublikanischen Geschichte zwischen zwei Polen angesiedelt: auf der einen Seite als von den Alliierten erzwungene Abwendung vom deutschen Sonderweg, auf der anderen Seite als Anknüpfung an liberale und demokratische deutsche Traditionen bzw. als gelungene eigenständige Etablierung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland. In diesem Sinne erfordert auch das Theorem von Habermas, der in der alten Bundesrepublik schließlich die vorbehaltlose intellektuelle Öffnung gegenüber dem Westen sieht und 1968 als Auftakt zu einer Fundamentalliberalisierung wertet, eigentlich eine ideengeschichtlich haltbare argumentative Unterfütterung.
Die geistige Substanz der Bundesrepublik, ihre intellektuelle Gründung oder Begründung lässt sich auf vielfältige Weise beschreiben – ob aus der Perspektive der Verfassungsväter und -mütter des Grundgesetzes, ob im Rahmen einer intellektuellen Streitgeschichte um die Republik oder etwa mit Blick auf die vorherrschenden Trends in der politischen Theorie und Philosophie.
Mit dem Übergang von der Bonner zur Berliner Republik ist vielfach auch ein ideeller Wandel diagnostiziert worden, der mit Blick auf das politische Denken beschrieben werden soll. Um politisches Denken bzw. politische Ideen zu entschlüsseln, bietet sich die Orientierung an verschiedenen Leitvorstellungen an: 1. nach den Staatsbildern – hier von der Intuition getragen, dass der Staat als Bezugsgröße des Politischen keineswegs an Wert verliert, sondern entgegen lange vorherrschender Trends das bestimmende Element bleibt, über welches wir politische Gemeinschaft definieren; 2. nach der Rolle und dem Verständnis von Öffentlichkeit – hier von der Intuition getragen, dass in der bundesrepublikanischen Demokratie zu verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Erwartungen an die Öffentlichkeit gestellt wurden, ob nun im Sinne eines Strukturwandels als Gegeninstitution zum staatlichen „System“, ob als Korrelat zu den staatlichen Institutionen oder als Souverän, nach dessen Willen institutionelle Arrangements zu verändern seien; 3. nach Konzeptionen von Subjektivität – hier von der Annahme getragen, dass sich ideale Lebensentwürfe und die vorgestellte Rolle des Bürgers in seinen partizipatorischen Rechten und staatsbürgerlichen Pflichten in einem Spannungsverhältnis befinden und dass sich, angelehnt an A.O. Hirschman, auch im politischen Denken bestimmte ideengeschichtlich ausschlaggebende Konjunkturen von Engagement und Enttäuschung abwechseln und mit jeweils eigenen ideellen Begründungen versehen werden. Eine bemerkenswerte Pointe lässt sich auch darin sehen, dass kritische Krisenanalyse und verfassungspatriotische Verteidigung der Bundesrepublik mittlerweile nicht mehr bestimmten politischen Lagern fest zuschreiben lassen, sondern zwischen links und rechts changieren.
(Stand August 2012)