Marginalisierungslagen und Exklusionsverläufe

Projektstart: Januar 2001

(Stand Mai 2004)

Im Jahr 1989 fasste die Europäische Gemeinschaft den Beschluss, ihre Aktionen gegen Armut und Arbeitslosigkeit unter das Motto des Kampfes gegen "social exclusion" zu stellen. Mit diesem Begriff, der im Deutschen meist mit sozialer Ausgrenzung oder sozialer Exklusion übersetzt wird, brachte sie die Besorgnis zum Ausdruck, dass angesichts steigender Arbeitslosenzahlen und wachsender sozialer Ungleichheit in vielen Ländern ein Teil der Bevölkerung vom Rest der Gesellschaft gleichsam abgekoppelt werden könnte. Fast überall in Europa haben Sozialwissenschaftler und Politiker sich seither mit der Frage beschäftigt, wie soziale Exklusion entsteht und wie sie zu bekämpfen ist. In Großbritannien beispielsweise wurden in den 90er Jahren sogenannte "social exclusion units" eingerichtet, die dazu verhelfen sollen, die Lebenssituation der Bevölkerung in städtischen Problemgebieten zu verbessern, und in Frankreich, wo die Exklusionsdebatte ihren Ursprung hatte, gab es zwischenzeitlich sogar einen eigenen Minister für Integration und den Kampf gegen Exklusion. Auch in Deutschland findet der Begriff der Exklusion in sozialpolitischen und wissenschaftlichen Debatten mittlerweile fast selbstverständlich Verwendung.

Doch was genau ist mit diesem Terminus gemeint? Zu Recht wird von einigen Soziologen darauf verwiesen, dass er einen wichtigen Perspektivwechsel in der Beschreibung sozialer Ungleichheit zum Ausdruck bringt. Wer von Exklusion oder Ausgrenzung spricht, unterstellt eine Abspaltung eines Bevölkerungsteils von der übrigen Gesellschaft. Klassen- und Schichtenmodelle indes, mit denen üblicherweise die Gesellschaft beschrieben wird, kennen keine gesellschaftlichen Spaltungslinien dieser Art. Selbst Begriffe wie Armut oder soziale Marginalisierung bringen noch nicht dieselbe Schärfe der Ungleichheit zum Ausdruck wie der Exklusionsbegriff. Es erweist es sich jedoch als schwierig, soziale Exklusion für die empirische Forschung konkreter zu definieren. So kommt es zu dem paradoxen Phänomen, dass das Neuartige und Besondere am Begriff betont wird, zugleich aber soziale Exklusion häufig mit anderen Kategorien der Sozialstrukturanalyse synonym verwendet wird. Vielfach ist mit Exklusion nichts anderes als Armut, Arbeitslosigkeit oder soziale Randständigkeit gemeint.

Da die Eigenheit des Exklusionsbegriffs auf diese Weise verloren geht, mindert sich auch sein analytischer Wert. In dem Projekt "Marginalisierungslagen und Exklusionsverläufe", das Ende des Jahres 2003 auslief, ging es deshalb darum, den Exklusionsbegriff deutlicher von anderen Kategorien der Sozialstrukturanalyse abzugrenzen. Was konkret, so lautete die Frage, unterscheidet denn die Exkludierten von jenen Personen, die üblicherweise zu den Armen, den Unterschichten und sozial Marginalisierten gezählt werden? Um dieser Frage nachzugehen, wurde zum einen auf die entsprechende Debatte in der Fachliteratur und zum anderen auf ausgewählte empirische Fallbeispiele Bezug genommen. Im Ergebnis ließen sich drei Merkmale hervorheben, durch die sich der Exklusionsbegriff von gängigen sozialstrukturellen Kategorien unterscheidet:

1. In der Soziologie besteht ein breiter Konsens, die Positionierung in einer Gesellschaft insbesondere an den Ressourcen Geld, Macht und Prestige zu bestimmen. Den sozialen Unterschichten oder dem Rand der Gesellschaft werden dementsprechend diejenigen Personen zugeordnet, die nur über besonders wenig dieser Ressourcen verfügen. Als Maßstab werden in der empirischen Forschung in der Regel Merkmale wie das Einkommen, der Bildungsstand und der Beruf herangezogen. Der Begriff der Exklusion geht von einer anderen Perspektive auf die Gesellschaft aus. Er bezeichnet den Ausschluss von grundlegenden Anrechten auf Teilhabe und Anerkennung in verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens: z.B. vom Arbeitsmarkt, von einem Mindestmaß an materiellem Wohlstand und von sozialen Netzen. Gerade der Aspekt des Herausfallens aus sozialen Netzen macht einen wichtigen Unterschied zwischen dem Exklusionsbegriff und gängigen Sozialstrukturkategorien deutlich. Indem die Frage nach der Eingebundenheit in soziale Netze aufgeworfen wird, wird auf einen Aspekt verwiesen, der in der Sozialstrukturanalyse lange Zeit weitgehend unberücksichtigt geblieben ist. Diese Besonderheit kann kaum genug betont werden. Der Exklusionsbegriff bestimmt sich eben nicht allein über den materiellen Lebensstandard oder die Stellung am Arbeitsmarkt, sondern auch daran, inwieweit es gelingt, Kontakt, Unterstützung und Anerkennung im eigenen sozialen Umfeld zu finden. Damit öffnet er den Blick für ein Merkmal sozialer Ungleichheit, das von erheblicher Bedeutung dafür sein dürfte, wie die Menschen die Gesellschaft wahrnehmen und wie sie sich im sozialen Leben verhalten.

2. Da in der Sozialstrukturanalyse die Ungleichverteilung von Ressourcen wie Geld, Macht und Prestige im Mittelpunkt steht, wird in den Debatten über soziale Benachteiligung der Blick für gewöhnlich auf die Armen, die Deprivierten, die Minderprivilegierten gerichtet. Der Exklusionsbegriff geht indes über Fragen der Ungleichverteilung hinaus, indem er immer auch die Formulierung von Anrechten und Ansprüchen voraussetzt, an denen die jeweiligen Lebensverhältnisse bemessen werden. Ein Beispiel: Im Allgemeinen wird Armut als ein Merkmal sozialer Exklusion erachtet, weil Armut bedeutet, das Leben nicht mehr in einer Weise gestalten zu können, wie es erwartet und gefordert wird. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch, als in Deutschland viele Menschen am Rand des Existenzminimums lebten, hatte Armut noch nicht dieselbe Bedeutung. Mangel und Not waren damals in der Bevölkerung weit verbreitet. So bedrückend die Situation auch erlebt werden mochte, materieller Mangel war in jener Zeit weit weniger mit der Erfahrung verbunden, mit anderen Menschen nicht mithalten zu können, und so war Armut auch nicht zwangsläufig als ein Merkmal sozialer Exklusion zu erachten. Es zeigt sich somit, dass das Phänomen in erheblichem Maß von gesellschaftlichen Standards und Erwartungshaltungen abhängig ist, und diese verändern sich nicht nur im historischen Zeitverlauf, sondern sie variieren auch innerhalb einer gegebenen Gesellschaft entlang geographischer Regionen und sozialer Milieus. Was in einem bestimmen sozialen Umfeld noch als normal gelten mag, kann in einem anderen Kontext schon zu der Erfahrung führen, nicht mehr dazu zu gehören. Exklusion lässt sich aus diesem Grund nicht allein anhand der Ressourcenausstattung (Lebensstandard, Bildung, Erwerbsstatus etc.) bestimmen. Vielmehr ist es wichtig zu berücksichtigen, wo eine Person in der Gesellschaft verortet ist und an welchen Maßstäben sich soziale Zugehörigkeit jeweils bemisst. Versuche, den Umfang sozialer Exklusion empirisch zu messen, erweisen sich vielfach als unbefriedigend, weil diesem Aspekt nicht genügend Rechnung getragen wird.

3. Obwohl Armut und Arbeitslosigkeit als zwei wichtige Merkmale sozialer Exklusion gelten, ist in der einschlägigen Debatte selten von den Armen und den Arbeitslosen schlechthin die Rede, sondern vielmehr von jenen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt allgemein wenig Chancen haben und oft schon seit geraumer Zeit erwerbslos oder ohne ausreichendes Auskommen sind. Der Grund ist darin zu sehen, dass der Exklusionsbegriff immer auch die Vorstellung einer gewissen Dauerhaftigkeit einer prekären Lage umfasst. Exkludierte sind nicht nur "draußen", sondern sie werden auch am "Hineinkommen" gehindert. Sie stehen vor verschlossenen Türen. Dieses Merkmal bildet einen weiteren wichtigen Unterschied zu den etablierten Kategorien sozialer Benachteiligung, die in erster Linie zur Beschreibung aktueller Lebensverhältnisse oder der sozialen Herkunft verwendet werden. Wenn bestimmte Personen zum Beispiel einer Randgruppe oder der gesellschaftlichen Unterschicht zugerechnet werden, dann besagt diese Kategorisierung noch nicht viel über ihre Chancen, einen gesellschaftlichen Aufstieg zu verwirklichen. Wie groß die Aufstiegschancen für Angehörige der Unterschichten und Randgruppen sind, kann je nach Gesellschaftstypus und historischem Zeitpunkt durchaus unterschiedlich sein. Der Begriff der sozialen Exklusion ist in dieser Hinsicht wesentlich bestimmter: Mit ihm wird grundsätzlich ein Mangel an Handlungsmöglichkeiten und Zukunftsperspektiven zum Ausdruck gebracht. Exkludierte befinden sich in einer Situation, die nicht nur prekär, sondern auch schwer veränderbar erscheint. Es ist gerade diese Konnotation, die dem Begriff seine besondere Schärfe und seine sozialpolitische Brisanz verleiht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Exklusionsbegriff einen veränderten Blick auf Phänomene sozialer Ungleichheit eröffnet und sich in verschiedener Hinsicht durchaus von herkömmlichen Sozialstrukturkategorien unterscheidet. Exklusionsprozesse verlaufen deshalb bisweilen quer zu den üblichen Einteilungen der Sozialstrukturanalyse, und es gibt Hinweise für die Annahme, dass sie am Ende des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen haben. Zugleich wird allerdings auch deutlich, wie schwierig es ist, soziale Exklusion empirisch zu messen. Sozialdemographische Merkmale alleine reichen für die Bestimmung nicht aus.

(Das Projekt wurde im Dezember 2003 abgeschlossen)