Perspektiven auf irreguläre Migration

Das Projekt befasst sich mit Grundlagen, Mechanismen und Effekten von Kritik und Rechtfertigung im Feld des gesellschaftlichen Umgangs mit irregulärer Migration, also wie Befürworter und Kritiker über die staatliche Praxis von Migrationskontrolle und den gesellschaftlichen Umgangs mit irregulärer Migration zu praktischen Kompromissen kommen. Irreguläre Migranten gibt es in allen Staaten, die das nach internationalem Verständnis bestehende Recht auf Kontrolle der Einreise und des Aufenthaltes von Ausländern auf dem eigenen Territorium ausüben.

Basis der theoretischen Überlegungen sind die Ansätze der Soziologie der Kritik von Luc Boltanski und Laurent Thevenot. Angelehnt an diesen Ansatz lässt sich sagen, dass der gesellschaftliche Umgang mit irregulärer Migration nicht allein von den staatlichen Akteuren der Migrationskontrolle und ihren Befürwortern bestimmt wird, sondern auch durch die Stärke einer Kritik an unakzeptablen Formen und Folgen der Migrationskontrolle. In dem Projekt wird analysiert, wie der Prozess von Kritik und Rechtfertigung zur Festigung oder Veränderung von Arrangements des gesellschaftlichen Umgangs mit irregulärer Migration führt. Das Projekt beschreibt dies am Fallbeispiel der irregulären Migration aus Ghana nach Hamburg.

Die Untersuchung ist forschungspraktisch in drei Abschnitte gegliedert.

Im ersten Abschnitt geht es um die Beschreibung und Analyse der bestehenden Vorstellungen über irreguläre Migration, sowohl im Hinblick darauf, was im öffentlichen Diskurs von den beteiligten Akteuren in Hamburg geäußert wird als auch hinsichtlich der Möglichkeiten des gesellschaftlichen Umgangs mit irregulärer Migration. Mit Hilfe von Interviews mit Vertretern von Behörden, Kirchen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen sowie durch Auswertung der Medienberichterstattung und amtlicher Quellen werden die unterschiedlichen Vorstellungen rekonstruiert. Eine erste Durchsicht gibt Hinweise, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit irregulärer Migration in Hamburg als Kompromiss nebeneinander bestehender Arrangements der sozialen Ein- und Ausgrenzung beschreiben lässt.

Im Untersuchungszeitraum wurde in Hamburg ein neuer Kompromiss entwickelt. Zuvor war irreguläre Migration von den Behörden ausschließlich im Rahmen der praktischen Routinen zur Aufrechterhaltung öffentlicher Ordnung bearbeitet worden. Sie wurde als Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen behandelt, auf die mit der Einleitung von Maßnahmen zur Beendigung des Aufenthaltes reagiert wurde. Für die Sozialbehörden waren irreguläre Migranten offiziell nicht existent. Die rechtliche Verpflichtung zur Bearbeitung sozialer Probleme wurde durch stillschweigende Duldung informeller Arrangements neutralisiert. So wurde z.B. die medizinische Versorgung der irregulären Migranten in die Verantwortung des priva-ten Engagements eines ehrenamtlichen Netzwerks verwiesen. Wurden Kinder statusloser Eltern in Schulen angemeldet, so wurde dies durch Schulleiter toleriert und nicht an die Behörde weitergemeldet. Mit der Einführung eines Schülerzentralregisters im Jahr 2006 war dieser Kompromiss durch die Behörden aufgekündigt worden.

Die Einführung des Schülerzentralregisters bot den Anlass für Kritik über den gesellschaftlichen Umgang mit irregulärer Migration, der von einem breiten Bündnis zivilgesellschaftlicher Gruppen getragen wurde. Das Diakonische Werk und die Gewerkschaft Verdi gaben eine wissenschaftliche Untersuchung über die Situation von Menschen ohne Papiere in Auftrag. Alle Kritiker bemängelten die pauschale Ausgrenzung irregulärer Migranten durch die Behörden. Die Kritiker betonten, dass das Recht auf Schulbildung und Gesundheitsversorgung auch für irreguläre Migranten gelte. Die staatlich errichteten Hürden, die den Schulbesuch von Kindern ohne Papiere und den Arztbesuch von Kranken ohne Aufenthaltsstatus verhindern, müssten abgebaut werden.

Letztlich verschafften sich die Kritiker mit ihren Argumenten Gehör und konnten für irreguläre Migranten günstigere Arrangements erreichen. Die Schulbehörde bestätigte offiziell die vorherige Praxis einiger Schulleiter mit der Begründung, dass der Aufenthaltsstatus bei einer Einschulung nicht abgefragt werden müsse und daher auch nicht gemeldet werden dürfe. Für die Gesundheitsversorgung irregulärer Migranten stellen die Behörden nunmehr öffentliche Mittel bereit. Damit haben Hamburger Behörden die soziale Existenz irregulärer Migranten und die eigene Zuständigkeit erstmals anerkannt. Dieser bemerkenswerte Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit irregulärer Migration soll detailliert beschrieben werden um erläutern zu können, wie diese Veränderungen bewirkt werden konnten.

Das Fallbeispiel der Migration aus Ghana nach Hamburg

Im zweiten Abschnitt wird erläutert, inwiefern und wie sich die irregulären Migranten an den kritischen Debatten beteiligen. Interviews mit irregulären Migranten aus Ghana und mit Vertretern ghanaischer Selbstorganisationen lieferten Informationen über die Lebenssituationen der Befragten und wie sie diese bewerten. Eine erste Auswertung zeigt, dass alle Befragten dazu neigen, den fehlenden Aufenthaltsstatus zu ignorieren, also nicht anzusprechen und nicht zu thematisieren. Die irregulären Migranten versuchen, das Stigma eines fehlenden Aufenthaltsstatus im sozialen Alltag zu verbergen und unsichtbar zu bleiben – auch gegenüber Landsleuten. Diese Dethematisierung der aufenthaltsrechtlichen Illegalität in der ghanaischen Community verhindert die Entstehung kollektiv formulierter Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit der Situation. In Notlagen erhalten irreguläre Migranten individuelle Unterstützung, wobei der fehlende Aufenthaltsstatus als Tatsache  hingenommen und nicht thematisiert wird. Die befragten ghanaischen Migranten stellten die Legitimation staatlicher Migrationskontrolle nicht in Frage. Sie betonen aber, dass es für sie legitim ist, das Risiko einer irregulären Migration einzugehen, um ihr Glück zu versuchen und ein besseres Leben zu führen. Die Befragten kritisieren, dass die individuelle Leistung des Überlebens in der Irregularität keine öffentliche Anerkennung bekommt und ihnen keine Legalisierungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Sie bemängeln, dass sie, wenn sie von den  Kontrollbehörden aufgegriffen werden, wie Kriminelle behandelt werden. In ihren Augen ist die illegale Einwanderung kein krimineller Akt.

Erfahrung, Vorstellung, moralische Grammatik

Im abschließenden Teil werden die Ergebnisse aus den beiden vorhergehenden Abschnitten in ihrer Wechselwirkungen auf die Rechtfertigungsdynamik untersucht. Ein besonderes Augenmerk gilt der Frage, wie die beschriebenen Veränderungen zu Stande kamen.

Die ersten Befunden lassen vermuten, dass die existenziellen Erfahrungen ghanaischer und anderer irregulärer Migranten nur einen geringen Anteil an der Erneuerung und Stärkung von Kritik gehabt haben. Das entscheidende Ereignis für ein breites Bündnis von Akteuren war vermutlich die Aufkündigung des Kompromisses paralleler Arrangements der Ein- und Ausgrenzung durch die Behörden. Die Durchführung der detaillierten Analyse wird in der verbleibenden Projektlaufzeit erfolgen.

(Stand August 2012)