Zugehörigkeits­konstruktionen in der Einwanderungs­gesellschaft

In dem Forschungsprojekt wird gefragt, wie  Nachkommen postkolonialer Einwanderung in Deutschland und Frankreich Zugehörigkeiten zu imaginierten muslimischen, kabylischen und palästinensischen Gemeinschaften konstruieren. Welche Ordnungsvorstellungen, Maßstäbe und normativen Prinzipien liegen solchen Zugehörigkeitskonstruktionen zugrunde, und wie werden mit Zugehörigkeitskonstruktionen gesellschaftliche Statushierarchien, politische und institutionelle Praktiken sowie Normen in Deutschland und Frankreich hinterfragt? Es geht also darum, den Zusammenhang zwischen Zugehörigkeitskonstruktionen und Erfahrungen mit Herrschaftsverhältnissen ebenso wie mit Bedingungen für individuelle Autonomie und Gleichbehandlung zu beschreiben und zu konzeptualisieren.

Drei Fallstudien wurden dafür zwischen 2003 und 2007 durchgeführt: eine zu muslimischen Zugehörigkeitskonstruktionen (in Hamburg, Paris und Lyon), eine zu kabylischen Zugehörigkeitskonstruktionen (in Paris und Lyon) und eine zu palästinensischen Zugehörigkeitskonstruktionen (in Berlin). Im Vordergrund des empirischen Untersuchungsinteresses stand die Frage, wie Nachkommen postkolonialer Einwanderung Gemeinschaft imaginieren und diese jenseits von nationalstaatlichen Strukturen in Deutschland und Frankreich verorten. Untersucht wurde die modale Seite sub- und transnationaler Gemeinschaftsimaginationen und nicht ihre inhaltliche Orientierung. Islam, kabylische Sprachkultur und palästinensischer Nationalismus sind als Beispiele für Inhalte betrachtet worden, die ermöglichen, Zugehörigkeit zu konstruieren und dergestalt handlungs- und kritikorientierende Sinnzusammenhänge herzustellen.

Um diese handlungs- und kritikorientierenden Sinnzusammenhänge einzuordnen, wurden die drei Fallstudien durch Untersuchungen über die institutionellen Bedingungen, mit denen sich Personen in der Konstruktion muslimischer, kabylischer oder palästinensischer Zugehörigkeiten in Deutschland und Frankreich konfrontiert sehen, ergänzt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen zum einen die semantischen Leistungen, die Territoriums-, Religions- und Sprachkategorie für die staatliche Organisation gesellschaftlicher Beziehungen in Europa allgemein erbringen, und zum anderen die institutionellen Strukturen sowie Entwicklungen, die mit diesen drei Kategorien in Deutschland und Frankreich verbunden sind. Dafür wurden Dokumente des Europarats und der Europäische Union (EU), auf der einen und deutsche wie auch französische Integrations-, Religions- und Sprachpolitik auf der anderen Seite darauf hin befragt, welche Selbstverständlichkeiten sie bezüglich des Verständnisses von Territoriums-, Religions- und Sprachkategorie setzen, welche normativen Maßstäbe mit diesen "Selbstverständlichmachungen" etabliert, und welche Herrschaftsinteressen damit verfolgt werden.

Die drei Fallstudien auf die europäischen Territoriums-, Religions- und Sprachsemantiken sowie auf die institutionellen Bedingungen deutscher und französischer Integrations-, Religions- und Sprachpolitik zu beziehen, ermöglicht – so die zugrunde gelegte Hypothese –  Zugehörigkeitskonstruktion in der europäischen Einwanderungsgesellschaft einerseits soziologisch zu konzeptualisieren, und andererseits das kritische Potential empirisch zu beobachtender Zugehörigkeitskonstruktionen  zu erfassen. Auf dieser Basis werden in der Arbeit zunächst der subjektiv gemeinte Sinn von Ordnungsvorstellungen, Maßstäben und Prinzipien sub- und transnationaler Gemeinschaftsimaginationen, dann die Strukturelemente, Zugehörigkeit zu konstruieren, und schließlich die normativen Orientierungen von Zugehörigkeitskonstruktionen unter Nachkommen postkolonialer Einwanderung in Deutschland und Frankreich systematisiert. Die Analyse des empirischen Materials zeigt, dass Gemeinschaftsimagination und Zugehörigkeitskonstruktion Ausdruck von individueller oder auch kollektiver Kompetenz sind, Handlungen sowohl auf Ideen als auch auf Interessen zu beziehen. Es wird geschlussfolgert, dass Personen mit Gemeinschaftsimaginationen und durch Zugehörigkeitskonstruktionen Normen – und was diese anbelangt, Entwürfe vom guten oder auch richtigen Leben sowie Konzeptionen von Gerechtigkeit – artikulieren und zugleich etablierte Herrschaftsverhältnisse ebenso wie gegebene Bedingungen individueller Autonomie und Gleichbehandlung in Deutschland und Frankreich hinterfragen.

Das Forschungsprojekt befindet sich im Stadium der Niederschrift.

(Stand September 2010)