Der "demokratische Frieden" als politisches Rechtfertigungsnarrativ

Projektstart: Mai 2011
Anna Geis

Dieses Projekt setzt sich kritisch mit der gegenwärtig erfolgreichsten und populärsten liberalen Theorie der US-amerikanischen Internationalen Beziehungen auseinander: dem sogenannten demokratischen Frieden. Unter den besonderen Leistungsmerkmalen von Demokratie als Herrschaftsform wird neben der Sicherung der inneren Freiheit, des inneren Friedens und eines gewissen Wohlstandes sowie der relativen Responsivität und Lernfähigkeit des politischen Systems oft ein außenpolitisch wirksames Charakteristikum genannt: Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Diese statistisch belegbare Verhaltensauffälligkeit von Demokratien hat in den Internationalen Beziehungen seit den 1980er Jahren ein umfangreiches, von US-Forscher/innen dominiertes Forschungsprogramm zum „demokratischen Frieden“ (DF) hervorgebracht.

Erfolgreich ist diese Forschung eben weil sie ein expansives Forschungsprogramm begründet hat, populär ist sie, weil sie – gleichwohl vereinfacht und verkürzt – aus den akademischen Räumen in die politischen Diskurse westlicher Demokratien „migriert“ ist. Politiker wie Publizisten beziehen sich insbesondere in den USA auf einzelne Befunde der Forschung, um bestimmte außenpolitische Strategien zu rechtfertigen oder um eine moralische Überlegenheit westlicher Demokratien in der internationalen Politik zu begründen. Im Extremfall wird die DF-Forschung zur Rechtfertigung gewaltsamer Demokratisierung (wie im Irak-Krieg 2003) herangezogen oder zur Legitimierung von Forderungen nach einem privilegierten „Bund der Demokratien“. In dieser Hinsicht dient die DF-Theorie der Unterfütterung einer konfliktverschärfenden Identitätspolitik demokratischer Akteure.

Als ideengeschichtliche Standardreferenz für dieses liberale Forschungsprogramm wird regelmäßig Immanuel Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) bemüht. Erklärungen für die Friedlichkeit von Demokratien werden in diversen institutionellen, ökonomisch-rationalen und normativ-kulturellen Faktoren vermutet. Demnach wird jenseits von unmittelbarer Selbstverteidigung Krieg als Mittel der Politik von demokratischen Bürger/innen aus eigennützig-materiellen wie aus moralischen Gründen abgelehnt, im Laufe historischer Lernprozesse bilden sich so Präferenzen für friedliche Mittel der Konfliktlösung heraus. Demokratische Verfahren und Institutionen sorgen schließlich dafür, dass kriegsgeneigte Regierungen ihre Absichten nicht in die Tat umsetzen, da sie aus Furcht vor Abwahl auf die Gewaltaversion ihrer Wähler/innen Rücksicht nehmen müssen.
 
Idee wie Forschung zum „demokratischen Frieden“ sind offensichtlich einem westlich-liberalen Aufklärungsprojekt der Moderne verpflichtet. Vorausgesetzt werden müssen rationale Akteure (‚einfache‘ Bürger/innen wie Eliten), die ein ausreichendes Maß an Vernunft, Selbstkontrolle und Lernfähigkeit besitzen, um Innen- wie Außenpolitik in einer zivilisierenden Perspektive zu betreiben: Rationale Kalkulation und stetes Ausgleichsbemühen, Achtung des Anderen und des Rechts begründen so zentrale Annahmen des DF-mainstreams.

Implizit oder explizit spricht aus einer Reihe von DF-Studien ein geschichtsphilosophisch anmutender Fortschrittsoptimismus, der ein allzu positives (Selbst-)Bild der konsolidierten nordwestlichen Demokratien mit sich führt. Teils artikuliert sich hier auch ein Glauben an die eigene politische wie moralische Überlegenheit des Westens, der insbesondere seit Ende des Kalten Krieges auch den demokratischen außenpolitischen Handlungsimperativ „Verbreitet die Demokratie und ihr verbreitet den Frieden“ motiviert. Der „demokratische Frieden“ ist so beileibe keine akademische Spielwiese von Philosophen und Politologen, sondern hat in einer verkürzten Fassung ausgesprochen wirkmächtig – und ideologieträchtig – die politische Praxis durchdrungen.

Trotz der außenpolitischen Instrumentalisierung der DF-Forschung ist offensichtlich, dass die These besonderer Friedensneigung von Demokratien modifiziert werden muss, da Demokratien zahlreich an Kriegen und Militäreinsätzen beteiligt waren und sind, d.h. sie führen Krieg gegen Nicht-Demokratien. Wie diese Beobachtung mit dem berühmten Befund eines scheinbar stabilen „Separatfriedens“ der Demokratien in Einklang gebracht werden kann, gibt der einschlägigen liberalen Forschung nach wie vor Rätsel auf: Wie können Demokratien gleichermaßen so friedlich wie unfriedlich sein?

Das Projekt analysiert zunächst den Diskurs über den „demokratischen Frieden“ als politisches Rechtfertigungsnarrativ. Die Forschung zum „demokratischen Frieden“ verläuft nahezu unabhängig von anderen Forschungssträngen in der zeitgenössischen Politikwissenschaft und der Soziologie, die ein wesentlich ambivalenteres Bild von der Friedensfähigkeit westlicher Demokratien vermitteln. Ziel des Projektes ist es, das optimistische Zivilisierungsnarrativ des „demokratischen Friedens“ mit mehreren Gegen-Narrativen über die Fragilität demokratischer Friedlichkeit zu konfrontieren und damit zu dekonstruieren.

Diese Gegen-Narrative entstammen staatstheoretischen, demokratietheoretischen sowie soziologischen Arbeiten über vielfältige Inklusions-/Exklusionsprozesse und die sie begleitenden Bedrohungskonstruktionen in spätmodernen demokratischen Gesellschaften. Deren Verknüpfung mit der bislang isoliert in den Internationalen Beziehungen florierenden Forschung zum „demokratischen Frieden“ ist deshalb aufschlussreich, weil militärische Gewaltanwendung in der Regel mit starken Bedrohungskonstruktionen einhergeht, mit negativ aufgeladenen Bildern eines (radikal) „Anderen“. Solche Differenzkonstruktionen dienen in ihrem Extrem des Feindbildes der Legitimierung eigener Gewalt, aber prinzipiell ist jedes auch scheinbar ‚harmlosere‘ „Othering“ Mittel zum Zweck der Konstruktion bzw. Stabilisierung eigener Identitätskonzeptionen.

Einige Motive aus den intensiven sozialwissenschaftlichen Debatten der letzten Jahrzehnte zu Identität/Differenz aufnehmend, analysiert das Projekt mögliche Begünstigungsfaktoren von Bedrohungskonstruktionen in und durch zeitgenössische konsolidierte Demokratien. Das Ziel ist aufzuzeigen, dass die mikrotheoretischen Fundamente des DF auf mehr als brüchigem Grund ruhen. Potenziell gewaltfördernde Exklusionsprozesse und Bedrohungskonstruktionen innerhalb westlicher Demokratien machen deutlich, dass der Frieden innerhalb wie zwischen Demokratien immer ein prekärer sein wird. Erst durch die Betrachtung der Lichtseiten wie der Schattenseiten moderner demokratischer Staaten lässt sich ein realistisches Bild ihres Zivilisierungspotenzials gewinnen.

(Stand Mai 2011)