Konflikte und europäische Vergesellschaftung

Kämpfe um Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und Wertschätzung in der europäischen Gesellschaft
Projektstart: Januar 2012

"[D]er Kampf [hat] soziologische Bedeutung […], indem er Interessengemeinschaften, Vereinheitlichungen, Organisationen verursacht und modifiziert, […]," schreibt Georg Simmel 1908 über den Streit als Form der Vergesellschaftung. Nach Simmels Verständnis generieren und reproduzieren Konflikte gesellschaftliche Handlungszusammenhänge, die sie zugleich strukturieren und differenzieren. Kämpfe, Streit und Kontroversen bilden also Prozesse ab, in denen Beziehungen zwischen den Handelnden hergestellt und geordnet wie auch die bestehenden Ordnungen solcher Beziehungen verändert werden. Diesen Gedankengang macht sich das Projekt zu Eigen und fragt nach dem Beitrag von Konflikten zu Vergesellschaftungsprozessen auf der europäischen Ebene. Der Fokus richtet sich dabei auf Konflikte, in denen die Akteure über Gerechtigkeit, Gleichheit und soziale Wertschätzung streiten. Untersucht wird, ob und in welcher Weise solche Konflikte europäische Handlungszusammenhänge schaffen und europäische Ordnungszusammenhänge hervorbringen beziehungsweise wandeln.

Die Fragestellung des Projekts verlangt nach einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konfliktbegriff. In der sozial- und geschichtswissenschaftlichen Forschung wie auch in der Europaforschung sind konflikttheoretische Ansätze zwar geläufig, gleichwohl fehlt eine Diskussion über den Konfliktbegriff und seine Verwendungen in den jeweiligen Ansätzen. Dies wird zum Anlass genommen, um unter einem soziologisch-historischen Blickwinkel einerseits den Interdependenzen zwischen Konflikten und nationalstaatlichen Ordnungsvorstellungen und andererseits den Zusammenhängen, Überschneidungen wie auch Abgrenzungen zwischen dem Konfliktbegriff und der Konzeptualisierung von Gewalt, Rechts- und Wohlfahrtsstaatlichkeit nachzugehen. Ziel ist es, mithilfe dieser Reflexion den Konfliktbegriff für die Untersuchung von Handlungszusammenhängen oberhalb und unterhalb der Ebene nationalstaatlicher Ordnungen zu öffnen und zu einer tragfähigen Kategorie der Analyse von Europäisierungsprozessen zu machen. Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, über die modernisierungstheoretischen und integrationstheoretischen Perspektiven der Konfliktsoziologie hinauszugehen.

An diese Theorie- und Konzeptualisierungsanstrengungen schließt die empirische Untersuchung von Konflikten über Gerechtigkeit, Gleichheit und soziale Wertschätzung in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen Union an. Im Blick auf die Genese, Praxis und Bearbeitung solcher Konflikte werden – so die These – europäische Handlungs- und Ordnungszusammenhänge sowie der Wandel bestehender Ordnungen sichtbar. Entwickelt wird diese These anhand von Fallstudien über:
a) sogenannte Stadtkonflikte, in denen die involvierten Akteure Verteilungs- und Zugehörigkeitsfragen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Ordnungszusammenhänge thematisieren;
b) betriebliche Konflikte, in denen die involvierten Akteure (etwa mittels eines Europäischen Betriebsrats) Interessen im Rahmen etablierter Ordnungszusammenhänge verhandeln;
c) Konflikte, in denen die involvierten Akteure die Ordnungszusammenhänge selbst zum Konfliktgegenstand machen, etwa im Bereich der Erinnerungs- und Migrationspolitik.

(Stand Oktober 2014)