Mit dem Projekt wird das Ziel verfolgt, zu einer Betrachtung der "Zwischenkriegszeit" beizutragen, die neue Zugänge zur Demokratiegeschichte nach dem Ersten Weltkrieg zu erschließen versucht. Ausgangspunkte sind die kritische Reflexion der eigenen Arbeitsgrundlagen und die Verknüpfung unterschiedlicher nationaler Perspektiven. Tradierte, selbstverständlich erscheinende Interpretationen, vor allem teleologische Annahmen über das Defizitäre, Unausgereifte, Ungewollte der Demokratie nach 1918, aber auch viele beinahe axiomatisch gewordene Vorstellungen nationaler Sonderentwicklungen, werden einer Überprüfung unterzogen. Eine Untersuchung zu diesem Themenkomplex muss sowohl grundsätzlich theoretisch-methodisch ansetzen als auch anhand der Quellen exemplarisch neue Deutungsmuster ausprobieren und materialerschließende Thesen entwickeln. Dies geschieht in der laufenden Arbeit in drei Schritten: 1. Sichtung der Forschung, 2. Abkehr von nationalen Narrativen und 3. Fallstudien zum Verhältnis von Demokratie und Wirtschaftspolitik nach dem Ersten Weltkrieg.
1. Sichtung der Forschung
Ein erster Schritt ist die Zusammenschau, Diskussion und klärende Zuspitzung der Forschung zur Weimarer Republik und zur deutschen Demokratie, die in den letzten zwei Jahrzehnten bemerkenswerte Durchbrüche erzielte. Dabei wurde auch ein neues Fundament für Deutungen und Theorien der Demokratie in der Zwischenkriegszeit errichtet. Ungeachtet dieser Leistungen besteht jedoch Bedarf an argumentativer Engführung, systematischer Verknüpfung und interpretatorischer Konsequenz, weshalb sich nicht problematisierte tradierte Annahmen neben innovativen und umstürzenden Erkenntnissen halten. Auf der Grundlage dieser umfangreichen Forschung wird in diesem Projekt der Versuch unternommen, neue Deutungsmöglichkeiten auszuloten.
2. Nationale Narrative
In der Forschung finden sich nach wie vor standardisierte Modelle und Hierarchisierungen nationaler Geschichten der Demokratie, die sich mit jüngsten Forschungen nicht mehr in Einklang bringen lassen – weder mit der vergleichenden Betrachtung der Demokratisierung in Deutschland noch mit der historischen Demokratieforschung über andere "westliche" Gesellschaften. Auch wenn Vorannahmen über nationale Sonderentwicklungen als Globalthesen zumeist nicht länger auf Zustimmung stoßen, sind diese oft weiterhin in die epistemischen Raster und die Mikronarrative eingewoben. Ohne Zweifel existieren Unterschiede in der Demokratiegeschichte. Es kann jedoch nicht länger überzeugen, bei der Bestimmung und Erklärung dieser Differenzen in einem zirkulären Argumentationsgang narrativen Konstruktionen späterer Epochen zu folgen, die in ihren eigenen historischen Kontexten spezifischen Intentionen folgten. Soweit als möglich, werden in dem Projekt zu heuristischen Zwecken darum nationale Narrative vermieden.In der aktuellen Forschung werden transnationale Aspekte immer stärker sichtbar, die eindeutig nationale Zuordnungen in Frage stellen. Darum sollen statische Idealtypen, die ahistorische nationale Container des Politischen abstrahieren, durch eine Betrachtung von politischen Vorstellungen, Begriffen und Handlungen in ihrer Wandelbarkeit, Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit ersetzt werden. Dies gilt auch für den in multiple kontextuelle Bedingungen eingebetteten Faktor der Kontingenz, der in die historische Rechnung einbezogen werden muss. Auch die Vorstellung einer nationalen Pfadabhängigkeit ist angesichts dieser Überlegungen als strukturelle Erklärung nicht hinreichend. Mit dieser Vorgehensweise soll der Möglichkeitshorizont der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geöffnet und die Geschichte der Demokratie als das große Experiment und die große Erwartung erkennbar werden, zu der sie in den Augen vieler Zeitgenossen in vielen Gesellschaften nach 1918 wurde – als eine offene Geschichte der Unwägbarkeiten und Risiken, aber auch der Stabilisierungen und Konsensstiftungen. Demokratien als neue Gebilde sollen im Hinblick auf ihre eigenen Möglichkeiten und ihr eigenes Selbstverständnis, auf ihre Normalität und Fragilität zugleich erfasst werden. Versucht wird also, das eigene historische Urteil nicht vorschnell vom Wissen um den Ausgang der Geschichte oder von nationalen Erzählungen beeinflussen zu lassen. Das hier vorgestellte Unternehmen bezieht seinen aktuellen Antrieb aus dem Eindruck des Ungenügens unseres Wissens über die Demokratie, ihre Potentiale und ihre Pathologien.
3. Fallstudien
Die erarbeiteten theoretischen und heuristischen Überlegungen und Grundlagen sollen in Fallstudien überprüft und differenziert werden. Ausgewählt wurde ein zentraler Aspekt des normal-fragilen Demokratiebildungsprozesses der Zwischenkriegszeit: der Zusammenhang von Demokratie und Wirtschaftspolitik. Hier verbinden sich thematisch Wirtschafts-, Politik- und Verwaltungsgeschichte. Die Erschließung erfolgt methodisch mit ideen-, begriffs- und kulturgeschichtlichen Instrumenten. Häufig hat die Isolierung der unterschiedlichen Ansätze und Untersuchungsfelder verhindert, relevante Erkenntnisgewinne auf verwandte Bereiche zu übertragen. Mit einem integrativen Ansatz – der die Demokratiebildung als politisch-kulturellen Prozess auffasst und von einem Konzept der politischen Vorstellungen ausgeht, die alle Handlungsfelder berühren – lassen sich die idealtypisch oder systemtheoretisch als autonom gedachten Felder des Politischen, des Ökonomischen und des Kulturellen in ihrer wechselseitigen Verschränkung erfassen. Sie konstituierten und stabilisierten sich nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam im Hinblick auf die Demokratie mit ihren alles durchdringenden Auseinandersetzungen, Institutionen, Strategien und Sprachen.
Dieses Projekt fußt empirisch auf der Beobachtung, dass in der scheinbar bevorzugt technokratischer Steuerung oder Selbstverwaltung zugänglichen Sphäre des Ökonomischen ein prominenter Fall der zeitgenössischen Etablierung eines demokratischen Erwartungshorizonts nach 1918 vorliegt. Bis 1933 lässt sich in diesem Zusammenhang die dynamische Öffnung und Verengung, aber keinesfalls die Eliminierung demokratischer Möglichkeiten erkennen. Im Mittelpunkt stehen die wirtschaftspolitischen Akteure im deutschen Reichswirtschaftsministerium und ihr Umfeld sowie die gesellschaftliche Diskussion von wirtschaftspolitischen Vorstellungen unter den Bedingungen der Demokratie. Doch sollen diese nationalen Konstellationen nicht isoliert, sondern mit Sensibilität für transnationale Probleme und international vergleichend untersucht werden.
Am chronologischen Endpunkt des Projekts wird zu erörtern sein, inwieweit die durch diese Vorgehensweise gewonnenen Ergebnisse relevant sind, um zu einem besseren Verständnis der Krise der Weimarer Demokratie im Kontext der europäischen Krise beizutragen - und auch, um die Potentiale wie die Pathologien des historisch wandelbaren Subjekts Demokratie präziser zu beschreiben.
(Stand März 2016)