Die Krise des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit
Nicht nur die liberalen Demokratien, sondern auch die politische Theorie des Liberalismus geriet nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unverhofft in eine schwere Krise. Der Optimismus, den die alliierten Westmächte aus dem Sieg über die Monarchien bezogen, war in den Nachkriegswirren bald verbraucht. Es zeigte sich, dass weder die internationale Friedensordnung nach den Pariser Vorortverträgen noch die neu geschaffenen demokratischen Staatsordnungen die erwünschte Pazifizierung des politischen Lebens bewerkstelligen konnten. Die liberaldemokratische Wertordnung der parlamentarischen Demokratie befand sich in Legitimationsnöten und war dem Angriff der revolutionären Linken ebenso ausgesetzt wie den Attacken einer radikalen Rechten, die nicht mehr lediglich konservativ auf die vergangene Ordnung rekurrierte, sondern – wie der Faschismus in Italien als erstes unter Beweis stellte – bereit war, neue autoritäre Herrschaftsformen auf dem Wege der Gewalt zu etablieren.
Mit den politischen Parteien, die aus liberaler oder sozialdemokratischer Überzeugung zu den Verteidigern des parlamentarischen Rechtsstaates zählten, gerieten auch diejenigen politischen Denker unter Druck, die sich mit dem Vorwurf konfrontiert fanden, weiterhin einer vermeintlich überlebten politischen Form anzuhängen. Nach verbreiteter Überzeugung gehörten der Liberalismus und das Parlament der europäischen belle epoque vor 1914 an. Die politischen Diskurse, die sich im Zuge dieser neuen Rechtfertigungszwänge und Problemkonstellationen entwickelten, sind bislang zumeist unter dem Aspekt der liberalen Schwäche und Selbstaufgabe betrachtet worden. Insbesondere im Fall der Weimarer Republik ließ sich die Erosion der parteipolitischen Mitte anhand der schwindenden Bereitschaft, an den politischen Prinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates festzuhalten, nachzeichnen. Auch unter Liberalen nisteten sich Zweifel an der Funktionalität des parteipolitischen Pluralismus ein und wurden Rufe nach der charismatischen Führerfigur laut.
Aus guten Gründen hat sich auch die ideengeschichtliche Forschung in erster Linie mit der Verbreitung des "antidemokratischen Denkens" (Sontheimer) beschäftigt, um zu erklären, wie es zum "Verrat der Intellektuellen" (Benda) kommen konnte, ob zugunsten einer linksrevolutionär-sozialistischen oder auch zugunsten einer konservativ-revolutionären Option. Darüber geriet aus dem Blick, dass es sehr wohl einen (wenn auch von einer Minderheit) anspruchsvoll geführten liberalen Selbstverständigungsdiskurs gegeben hat, der liberale Selbstkorrektur und Reformbereitschaft mit einer wehrhaften Kritik gegenüber dem Antiliberalismus verband.
In dem hier projektierten Forschungsvorhaben soll gezeigt werden, dass die politiktheoretischen Neuentwürfe, die ihrerseits Reaktionen auf Krisenerfahrungen und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse darstellten, Aufmerksamkeit und Analyse aus mehreren Gründen verdienen:
Erstens wirken sie immer noch als Manifestationen des Common sense in Zeiten, die von politischem Irrationalismus, Utopiesehnsucht und Untergangsdenken gleichermaßen durchdrungen bzw. dominiert waren.
Zweitens finden wir in den intellektuellen Auseinandersetzungen jener Jahre ein später selten erreichtes Niveau, wenn es darum geht die Grundlagen der sozialen Demokratie zu erörtern, denn sie war das zunächst unterlegene, aber doch nachhaltige Produkt des totalitären Zeitalters.
Drittens – und dies bleibt auch in unseren Tagen aktuell – war der liberale Kapitalismus in seiner Krisenanfälligkeit der zentrale Gegenstand einer theoretischem Erörterung, die dessen politische Einhegung unter Gerechtigkeits- und Distributionsgesichtspunkten thematisierte. Viertens schließlich fallen in jenes Zeitalter die ersten fundierten Analysen der Probleme von Massendemokratien, die vor der Aufgabe standen, das Prinzip der Repräsentation neu zu begründen, die Integrationsfähigkeit des politischen Systems zu gewährleisten und politische Handlungsfähigkeit zu beweisen.
Um dieses Themenspektrum entwickelten sich in den 1920/30er Jahre lebhafte Debatten unter Staatsrechtlern, Soziologen, Nationalökonomen und anderen politischen Denkern, die in vielerlei Hinsicht den Erfahrungshintergrund und die Inspirationsquelle für die zweite Nachkriegszeit nach 1945 lieferte. Für das politische Denken bleibt zentral, dass es neben der Lernerfahrung aus den Katastrophen der "Weltbürgerkriegsepoche" auch das Streben nach Kontinuität gab. Vieles, was in der kurzen Atempause der Zwischenkriegszeit vorgedacht wurde, entfaltete erst im geschützten westeuropäischen Raum des Kalten Krieges seine Wirkung. Das gilt für die Totalitarismustheorie ebenso wie für den Ordoliberalismus, für Pluralismuskonzeptionen genauso wie für die Lehre von der wehrhaften Demokratie. Auch die Kritik am Verbändestaat und am schleichenden Bedeutungsverlust des Parlamentarismus greift auf Deutungsmuster der Zwischenkriegszeit zurück.
Das Forschungsvorhaben zielt darauf ab, ein problemorientiertes, wertgebundenes und um Rationalität bemühtes liberales Denken neu zu entdecken, das für eine nach wie vor ausbaufähige liberale politische Theorie nutzbar gemacht werden kann.
(Stand August 2012)