Socio-histoire der Europäisierung

Sozialpolitik, rechtliche Gleichbehandlung und öffentliche Dienstleistung im Wirbel europäischer Maßstäbe
Projektstart: Februar 2013

Begriffe wie Gesellschaft, Solidargemeinschaft und Rechtskategorien wie Souveränität oder Gleichbehandlungsprinzip stehen historisch aber auch konzeptuell in einem Zusammenhang mit den Entwicklungen des Nationalstaats. Sie stellen Handlungsoptionen und Problemdefinitionen in einen nationalstaatlichen Rahmen. Die Europäisierung gesellschaftlicher Beziehungen und politischer Prozesse führt jedoch zu veränderten Handlungsoptionen und Problemdefinitionen. Dies wird in aktuellen Kontroversen etwa über den herzustellenden sozialpolitischen Ausgleich, die Umsetzung des europäischen Gleichbehandlungsprinzips oder auch über die Gewährleistung öffentlicher Dienstleistungen deutlich. Die Europäisierung verlangt nach einer Neubestimmung von Begriffen und Kategorien, die der Genese und Wirkung nationalstaatlich verankerter Handlungsoptionen und Problemdefinitionen Rechnung trägt.

Die Europaforschung steht vor einer Herausforderung. Sie muss die gegenwärtigen europäischen Kompetenz- und Maßstabsverschiebungen in einer Perspektive der longue durée untersuchen und  die Europäisierung in einem Zusammenhang mit historischen Kontroversen sowohl auf der lokalen wie auch auf der regionalen und nationalstaatlichen Ebene betrachten. Dies soll in dem Projekt am Beispiel der Sozialpolitik, der Anwendung der rechtlichen Gleichbehandlung und der Gewährleistung öffentlicher Dienstleistungen geschehen. Durchgeführt wird das Projekt in Form einer Arbeitsgruppe, die aus Soziologen, Historikern, Politik- und Rechtswissenschaftlern verschiedener wissenschaftlicher Einrichtungen zusammengesetzt ist. Die Arbeitsgruppe will zur Entwicklung soziologisch-historisch informierter Konzepte für die Analyse der Europäisierung beitragen. Sie trifft sich im drei- Monat-Rhythmus fünf Mal im Hamburger Institut für Sozialforschung. Die Koordination und Leitung haben Monika Eigmüller (Universität Leipzig) und Nikola Tietze (Hamburger Institut für Sozialforschung).

Der Ansatz der  Socio-histoire

Ausgangspunkt des Projekts ist der in Deutschland bislang kaum rezipierte Ansatz der socio-histoire, der sich in Frankreich bereits Ende der 1980er Jahre im Dialog zwischen Geschichtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft herausgebildet hat. Die socio-histoire richtet ihren Blick auf die Zentren der Macht und thematisiert, ausgehend von mikroperspektivischen Untersuchungen, die Kontroversen, Aushandlungsprozesse und Situationen sozialer und auch politischer Unsicherheit. Der Ansatz verdeutlicht, wie Ideen und deren Semantiken in gesellschaftlichen Konflikten zu Handlungsorientierungen oder auch zu politischen Entscheidungskriterien gemacht werden. Daher eignen sich Konzepte, Methoden und Instrumente der socio-histoire, um die Europaforschung stärker als bislang geschehen für handlungssoziologische Fragestellungen zu öffnen.

Fragestellungen

Ziel der Arbeitsgruppe ist es, die Transformationen ins Auge zu fassen, die die unterschiedlichen staatlichen und nicht staatlichen Akteure auf der lokalen, regionalen, nationalen und europäische Ebene in ihren Auseinandersetzungen über Sozialpolitik, Gleichbehandlung und öffentliche Dienstleistungen anstoßen.

Folgende Fragekomplexe stehen im Zentrum der Diskussion:
•    Welche Handlungsrationalitäten und -normen kommen in den ausgewählten historischen Konstellationen der Sozialpolitik, der Durchsetzung von Gleichbehandlung und der Gewährleistung öffentlicher Güter zum Tragen?
•    Welche Problemdefinitionen und Kategorisierungen charakterisieren die betrachteten ausgewählten historischen Konstellationen?
•    In welchem Zusammenhang stehen die Problemdefinitionen, Kategorien, Rationalitäten und Normen mit der Entwicklung gesellschaftlicher Beziehungen beziehungsweise gesellschaftlicher Interaktionen?
•    Welche veränderten Handlungsoptionen und Handlungsebenen ergeben sich für die jeweils ausgewählten Beispiele dadurch, dass Kompetenzen sowie Maßstäbe durch Sozialpolitik, Durchsetzung von Gleichbehandlung oder Gewährleistung öffentlicher Güter zugeordnet oder auch verschoben werden? Welche spezifischen Handlungsräume bilden sich heraus durch die vorgenommenen Kompetenzzuschreibungen und Maßstabsordnungen?
•    Mit welchen Gruppenbildungen und Institutionalisierungen sind die jeweils betrachteten historischen Konstellationen der Sozialpolitik, Durchsetzung von Gleichbehandlung und Gewährleistung öffentlicher Güter verbunden?
•    Welche Rückschlüsse lassen sich aus der beobachteten Genese und Transformation der Handlungsrationalitäten und -normen in der Sozialpolitik, Durchsetzung von Gleichbehandlung und Gewährleistung öffentlicher Güter für die Entwicklung europäischer Gesellschaftsbeziehungen bzw. Europäisierung politischer Prozesse ziehen?
•    Welche Möglichkeiten und Grenzen haben Analogiebildungen zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart, welcher Art muss ein solches diachrones Arbeiten sein, um den spezifischen methodischen und theoretischen Ansprüchen der sozialwissenschaftlichen Europaforschung gerecht zu werden?


Zwischenresümee

Zwischenresümee - Arbeitsgruppe Socio-histoire der Europäisierung

Arbeitspapier zur socio-histoire

online im Netzwerk Sozialraum Europa an der Freien Universität Berlin, Arbeitspapier 8, August 2014

AG "Strukturwandel der Konfliktbearbeitung in Europa"

Die Arbeitsgruppe am Heidelberger MPI für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht baut auf die Erfahrungen von zwei im Hamburger Institut für Sozialforschung durchgeführten Arbeitsgruppen auf: die eine zur socio-histoire der Europäisierung von Sozialpolitik, öffentlichen Dienstleistungen und Gleichheitsvorstellungen und die andere zu Konflikten, die mit Europäisierungsprozessen verbunden sind.