Der Begriff "Lebensraum" ist auf das Engste mit der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges verbunden. Seine Bedeutung erweist sich jedoch als weitaus vielschichtiger. Vor dem Hintergrund einer mittlerweile raumtheoretisch informierten Geschichtswissenschaft lässt sich die Handlungsrelevanz von "Raum" nicht mehr nur eindimensional betrachten, daher wurden in dem abgeschlossenen Forschungsprojekt räumliche Ordnungskonzepte des 19. und 20. Jahrhunderts konsequent historisiert. Hierfür war es zunächst erforderlich, nach spezifischen Erscheinungsformen politischer Territorialität, nach der Verklammerung wissenschaftlicher Theoriebildung und politischer Handlungspraxis sowie nach den zentralen Semantiken, Konzepten und Praktiken räumlichen Ordnens zu fragen. Während die bisherige Forschung territoriale Ordnungsvorstellungen vor allem im Kontext von Staatsbildungsprozessen in den Blick genommen hat, wurden in diesem Projekt die unterschiedlichen Formen der administrativen, ökonomischen, institutionellen wie auch infrastrukturellen Raumaneignung als Territorialisierungspraktiken verstanden. So lassen sich nicht nur die räumlichen Ordnungen als solche, sondern vor allem auch das Ordnen von Räumen als komplexer Vorgang der inneren oder äußeren Landnahme analysieren.
Folgt man diesem Ansatz, erweist sich die nationalsozialistische Expansions- und Vernichtungspolitik keineswegs als schlichte Ausführungspraxis der von Hitler oder anderen NS-Funktionären propagierten Eroberung von Lebensraum. Die auf Planungs- und Handlungsebenen kursierenden und oftmals stark divergierenden Raumkonzepte wurden in den zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft immer wieder angepasst und umgearbeitet. Gerade der rasante Aufstieg der Raumplanung in den 1930er Jahren zeigt, wie das Ordnen von Räumen als Herrschaftsstrategie professionalisiert und zugleich wissenschaftlich unterfüttert wurde. Das Lebensraum-Konzept begann sich in diesen Kontexten sowohl von seinen geographisch-geopolitischen wie auch von seinen agrarökonomischen Horizonten zu lösen und wandelte sich im Spannungsfeld zwischen rassenbiologischen und raumtheoretischen Ordnungsmustern zu einem Planungskonzept, das vorrangig auf die Eroberung, Besiedlung und Beherrschung von Großräumen ausgerichtet war. Die nationalsozialistische Territorialpolitik basierte im Kern auf der Vorstellung, den vorhandenen wie auch den eroberten Raum rassisch zu homogenisieren. Die Umsiedlung, Vertreibung und Ermordung der rassisch wie politisch unerwünschten Bevölkerungsgruppen war nicht Folge, sondern Zweck und Ziel der Territorialisierungspolitiken im eroberten Osten. Dies blieb trotz gewisser Anpassungen an den vor allem nach Juni 1941 erweiterten Machtbereich, sowie einer kriegsbedingt verwässerten Selektions- und Eindeutschungspraxis gegenüber Nicht-Juden für die nationalsozialistische Raumpolitik kennzeichnend.
Genau darin liegt ein signifikanter Unterschied zur kolonialen Landnahme, für die sich gleichwohl nicht weniger eindrücklich die Übersetzung von intellektuellen Raumtheorien in politische Territorialisierungs-, Eroberungs- und Herrschaftsstrategien nachzeichnen lässt. Im Zuge der Objektkonstituierung des noch jungen Faches Geographie entwickelte vor allem Friedrich Ratzel eine am Darwinismus konturierte, evolutions- und migrationstheoretische Raumkonzeption, mit der er nicht nur die Eroberung von Lebensraum zu einem politischen Kampfbegriff erklärte, sondern mit der er vor allem die für das 19. Jahrhundert signifikanten Verdichtungsdynamiken in das Feld staatlicher Territorialisierungs- und Eroberungsprozesse transferierte. Obgleich er auf diesem Wege imperiale Eroberungen der als kulturell hoch entwickelt angesehenen Kolonialmächte ungeniert rechtfertigte, drückt sich darin weder eine spezifisch deutsche Variante imperialer Ideologie aus noch lässt sich daraus ein Automatismus ableiten, der früher oder später zu einer rassistischen Lebensraum- und Vernichtungspolitik hätte führen müssen.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass allen untersuchten Ordnungsentwürfen bestimmte Raumvorstellungen zugrunde lagen, an denen sich nicht nur politische Leitbilder und Begriffe, sondern auch konkrete Verfahren, Handlungsoptionen und Praktiken des räumlichen Ordnens konturierten, mit denen sich darüber hinaus auch signifikante Vorstellungen von Zugehörigkeit, Partizipation und Exklusion verbanden. Die augenfällige Handlungsrelevanz der Kategorie "Raum" lässt die Aussage zu, dass sich nach einer langen Konstituierungsphase, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht, allmählich die Vorstellung verfestigte, Territorialität gehöre zu den signifikanten Ordnungsprinzipien moderner Gesellschaften. Territorialisierungsprozesse können in diesem Sinne als symbolische wie auch machtpolitische Aneignungsvorgänge verstanden werden, die in Europa zweifellos eine enge Korrelation zu nationalstaatlichen wie auch imperialen Herrschaftsformen aufweisen. Allerdings lässt sich Territorialität für das 19. und 20. Jahrhundert nicht überzeugend als ein durchgängig konstantes, überwiegend nationalstaatlich verfasstes Raumprinzip beschreiben, sondern gerade der Wandel territorialer Ordnungsvorstellungen und damit auch die immer wieder überformten Varianten der räumlichen Verfasstheit öffnen erst den Blick für die spezifischen Dynamiken territorialer Herrschaftsstrategien.
(Stand August 2012)