Volksgemeinschaft als Forschungsbegriff
Der Nationalsozialismus hatte innerhalb kürzester Zeit den Rechtsstaat in Deutschland zerstört und die deutsche Gesellschaft tiefgreifend verändert. Dafür wurden in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte vor allem der Terror und die Gewalt verantwortlich gemacht. Neuere Forschungsvorhaben richten ihr Augenmerk heute stärker auf die gesellschaftliche Zustimmung, die das NS-Regime gerade zu Beginn seiner Herrschaft in der Bevölkerung erfahren hat. Man weiß nach wie vor sehr wenig darüber, mit welchen Erfahrungen, welchen Erwartungen, Hoffnungen und Sehnsüchten viele Deutsche, die neue Ordnung unterstützten, ohne damit gleich zu Nationalsozialisten zu werden.
Mit dem Begriff "Volksgemeinschaft" steht anders als in früheren Forschungen, die nach Widerstand und Resistenz suchten oder in der Trias "Täter – Opfer – Zuschauer" ein erschöpfendes Modell sozialen Verhaltens zu erkennen glaubten, ein Forschungsbegriff im Mittelpunkt, der nicht mehr Staat gegen Gesellschaft ausspielt. "Volksgemeinschaft" weist vielmehr darauf hin, dass das Politische nicht nur im Staat, sondern auch in der Gesellschaft und aus ihr heraus entsteht, dass politische Ordnungen im Sozialen, in sozialen Erfahrungen wie Erwartungen ihre Grundlage haben können.
Michael Wildt ist Professor für Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Während des Aufenthalts als Gastwissenschaftler in der Zeit von April bis Oktober 2013 soll eine Studie entstehen, die in der "Kleinen Reihe" der Hamburger Edition im Frühjahr 2014 erscheinen wird.