Die Demokratisierung Westeuropas in der Nachkriegszeit am Beispiel von Veteranenverbänden

Forschungsgruppen - Demokratie & Staatlichkeit
Projektstart: April 2021

Das Projekt untersucht die Frage, welche Rolle die Assoziation in Verbanden für die Demokratisierung Westeuropas in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spielte. Es steht damit im Zusammenhang mit einer breiten Literatur, die Alexis de Tocqueville in der Annahme folgte, Zusammenschlüsse seien der Demokratie zuträglich, indem sie Tugenden des Zusammenlebens pflegten. Wie der politische Philosoph Mark Warren gezeigt hat, ist aber Tocqueville wenig spezifisch in seiner Ausführung darüber, wie sich der Zusammenhang zwischen Demokratie und Assoziation denn nun konkret gestalte. Auch kommt bei Tocqueville die Möglichkeit einer anti-demokratischen Assoziation schlichtweg nicht vor. Das Vorkommen solcher Assoziation, das beispielsweise der Soziologe Dylan Riley am Beispiel der faschistischen Ordnungen in Italien und Spanien untersucht hat, verkompliziert den Zusammenhang zwischen Demokratie und Assoziation, den Tocqueville suggeriert.
Veteranenverbände in der Nachkriegszeit, der Forschungsgegenstand, bieten erstklassiges Material, um sich der Frage zu nähern, unter welchen Bedingungen Assoziation positive oder negative Effekte auf eine demokratische Ordnung entwickelt, insbesondere vor dem Hintergrund der Jahre zwischen den Weltkriegen, als die Behauptung der Repräsentation des „Fronterlebnisses“ in Organisationen wie dem „Stahlhelm“ oder den „Croix-de-feu“ zur anti-republikanischen Mobilisierung benutzt wurde. Anders als bei Tocqueville geht es dem Projekt weniger um individuelle Tugenden, sondern vielmehr um ein Verhältnis zwischen Regierung und Regierten, in dem Assoziation eine wie auch immer geartete Rolle spielen mag. Dabei erscheint die Entstehung einer „disziplinierten Demokratie“ in der Nachkriegszeit als ein Aspekt einer spezifischen Balance der Auswirkungen von Assoziation, wie sie in der Nachkriegszeit Westeuropas entstand. Entwickelt wird die Argumentation auf der Basis von Archivmaterial (staatlich wie privat), das aus der Geschichte westdeutscher und französischer Veteranenverbände von 1945 bis ungefähr 1965 stammt.
In der Analyse liegt ein besonderes Augenmerk auf zwei Aspekten: Zum einen sind das die Art und der Grad der Einbindung der Verbände in die politische Entscheidungsfindung, gewissermaßen der „tatsächliche“ Zustand der demokratischen Herrschaft. Zum anderen geht es darum, wie über diese Herrschaft gesprochen wurde, wie sie zum sprachlichen Ausdruck kam. Beide Aspekte sind nicht deckungsgleich, aber miteinander verknüpft.
Dem ersten Aspekt kommt man mithilfe von Überlegungen des Soziologen Charles Tillys zur Rolle von Vertrauensnetzwerken in der Demokratisierung näher. Laut Tilly sei deren teilweise Einbindung in die Herrschaftsordnung eine Bedingung für Demokratisierung. Dabei könne es nicht um die vollständige Integration der Netzwerke gehen, da dann die autonome Fähigkeit der Zustimmung oder Ablehnung verloren gehe, mithin der demokratische Akt selbst. Ebenso wenig sei Demokratisierung aber in der vollständigen Autonomie der Netzwerke zu suchen, die sich dann kollektiven Entscheidungen entziehen könnten. Hiermit ist ein Maß gewonnen, mit dem man an die Veteranenverbände herantreten kann. Mit dieser Konzeption müsste man den anti-demokratischen Effekt des Stahlhelms und ähnlicher Zusammenschlüsse in ihrer Kapazität und ihrem Willen sehen, sich und ihre Mitglieder der demokratischen Entscheidungsfindung zu entziehen. Das ist eine anders gelagerte Problematik als die in der Literatur häufig anzutreffende Zuspitzung auf politische Rhetorik.
Damit ist nun der zweite Aspekt von oben angesprochen, denn offenkundig lag die Sprache der Akteure nicht völlig neben deren Engagement. In den Quellen zeigt sich, dass das im Nachkrieg verbreitete, öffentliche Bekenntnis zur Demokratie keine sterile Sonntagsrede war, sondern polemisch gegen konkrete Gegner ausgerichtet, mit dem Ziel spezifischer Ausschließungen. Diese Gegner, z.B. von ihrem Engagement unter einem autoritären Regime belastete Verbandsfunktionäre, mobilisierten nun ihrerseits die Rede von der Demokratie, um diesen Ausschließungen entgegenzuwirken. Auf diese Art wirkte der Grad der Integration der Verbände und die Rede über die Demokratie zusammen und aufeinander ein.
Besonders gut untersuchen lässt sich diese Form der Demokratisierung in Momenten der Kontaktaufnahme zwischen den deutschen und den französischen Verbänden. Diese Kontakte unter ehemaligen Kriegsgegnern nun „europäisch“ zu nennen, hing ebenso mit dem Vokabular der Demokratisierung zusammen, wie das Nachempfinden der staatlichen Schritte zur europäischen Integration etwas mit Verbandsbeziehungen zur Regierung zu tun hatte. Das Projekt hält sich dabei von der Setzung der föderalistischen Ideologie fern, Europäisierung und Demokratisierung seinen gleichbedeutende und sich gegenseitig verstärkende Phänomene. Stattdessen fragt es, wo sich eine in den Handlungen der Verbände eine konkrete Erklärung für beider Koinzidenz finden lassen könnte.