Volksgemeinschaft und Antisemitismus

Gewalt gegen Juden in Deutschland 1930 bis 1939
Michael Wildt

(Stand Juli 2007)

In eben dem Moment, als das Volk als souveränes Staatsvolk, als Versammlung der mündigen Bürger, in greifbare Nähe gerückt war und die Weimarer Verfassung vom 11. August 1919 in Artikel 1 bestimmte: "Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus", gewann ein gänzlich anderer politischer Begriff Verbreitung: die Volksgemeinschaft.Der Begriff hatte Konjunktur in der Weimarer Republik. Nahezu alle Parteien, selbst auf der Linken, benutzten "Volksgemeinschaft" als politisches Schlagwort. Aber während der Begriff bei den Sozialdemokraten einen klassenversöhnlerischen Sinn besaß, gewissermaßen als Synonym für die Einheit aller Schaffenden gegen eine verschwindende Minderheit von Großkapitalisten, war die "Volksgemeinschaft" auf der Rechten, insbesondere bei den Nationalsozialisten, vor allem durch die Grenzen, durch die Exklusion bestimmt. Nicht so sehr die Frage, wer zur Volksgemeinschaft gehörte, beschäftigte die Rechte als vielmehr, wer nicht zu ihr gehören durfte, allen voran die Juden. Überzeugender als die anderen Parteien, die wie die Liberalen, Konservativen oder die Katholiken ihren jeweiligen, allerdings immer brüchiger werdenden sozialmoralischen Milieus verpflichtet waren, konnte sich die NSDAP als "junge", klassenübergreifende "Volkspartei" präsentieren. Hitler fiel das Charisma eines "Führers" des gesamten Volkes zu, der imstande war, die Wünsche nach Einheit, Heil, Überwindung der Spaltungen ebenso wie nach Integration und Anerkennung auf das Versprechen einer künftigen Volksgemeinschaft zu bündeln.Aber von Anfang an war das inkludierende Moment der Volksgemeinschaft mit der brutalen Ausgrenzung der sogenannten "Asozialen", der angeblich erbbiologischen Minderwertigen und vor allem der Juden verbunden. Was in der späteren Erinnerung der einstigen "Volksgenossen" gern getrennt wurde, nämlich die Judenverfolgung und die Gemeinschaftserlebnisse im Nationalsozialismus, gehörten untrennbar zusammen, bildeten die beiden Seiten eines politischen Projekts: die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft und die Errichtung einer neuen, rassistischen Ordnung. Das nationalsozialistische Projekt einer Volksgemeinschaft meinte nicht die "Heilung" einer Gesellschaft, die tief zerrissen, unsicher, verängstigt war und sich nach Einheit sehnte, sondern zielte auf scharfe Grenzziehungen innerhalb dieser Gesellschaft, auf brutale und gewalttätige Differenzierung.Deshalb besaß der Antisemitismus für die praktische Volksgemeinschaftspolitik des NS-Regimes einen zentralen Stellenwert, da die Verfolgung der Juden zugleich Ziel wie wesentliches Instrument darstellte. Die deutsche Gesellschaft in eine rassistische, aggressive Raub- und Eroberungsgemeinschaft zu verwandeln, konnte nicht per "Führererlaß" allein erfolgen. Die Herstellung der Volksgemeinschaft war ein politisch-praktischer und terroristischer Prozeß, der die deutsche Gesellschaft nicht nur in sozialer, sondern auch politisch-kultureller Hinsicht verändern sollte. In der politischen Praxis vor Ort hieß das, soziale Distanzen zu schaffen, jedwede Solidarität und Mitleid mit den Verfolgten zu stigmatisieren, um die Juden zu isolieren und für rechtlos, ja vogelfrei zu erklären. Untersucht man die unaufhörlichen, gewalttätigen antisemitischen Kampagnen in den Jahren vor dem Krieg, gerade in den kleinen Orten, die Vehemenz und Aggressivität, mit denen gegen die jüdischen Kaufleute, Bürger, Nachbarn vorgegangen wurde ebenso wie gegen diejenigen, die bei Juden einkauften, mit ihnen Kontakt hielten und dafür als "Volksverräter" öffentlich angeprangert wurden, wird deutlich, welche Demütigungen, Erniedrigungen, existentielle Not und nicht zuletzt Gefahr für Leib und Leben eine solche Politik der Umwandlung eines Staatsvolkes in eine Volksgemeinschaft im Alltag konkret bedeutete.Die mehr oder weniger heimliche Komplizenschaft vor Ort, die die geltende Rechtsordnung für Juden in der Praxis außer Kraft setzte, ihnen den Schutz verweigerte und sie der Gewalt preisgab, war als Politik "von unten" ebenso notwendig wie die Erlasse, Gesetze, Maßnahme "von oben", um die Volksgemeinschaft herzustellen. In dem Moment, in dem Recht gegenüber einer Gruppe ohne Folgen gebrochen werden konnte, war die Grenze der Volksgemeinschaft bereits gezogen, die einerseits alle "Volksgenossen" einschloss, andererseits alle Juden und andere "Fremdvölkische" wie "Gemeinschaftsfremde" ausgrenzte. Dieser Prozess der Ausgrenzung geschah nicht ausschließlich auf Anweisung "von oben", er wurde nur wirksam, wenn er gleichermaßen "unten" praktiziert wurde. So wie die Täter keineswegs bloße Befehlsempfänger waren, die Anweisungen ausführten, sondern die Situation, die Gewalttat mitdefinierten, so hatten auch die Zuschauer, Passanten, bystanders eine gleichermaßen elementare Rolle als Duldende oder Billigende. Volksgemeinschaft als Selbst-Ermächtigung.

Das nun abgeschlossene Projekt untersuchte diese Transformation einer bürgerlichen Gesellschaft, die Herstellung der Volksgemeinschaft durch die Praxis der Gewalt. Gestützt vor allem auf die Berichte der Ortsgruppen des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die Erinnerungsberichte deutscher Juden, auf Zeitungsberichte sowie Unterlagen der Gestapo und anderer staatlicher Instanzen wurde anhand lokaler Fallstudien eine vergleichende Analyse nach Gewaltsituationen, Eskalationsmomenten und der Beteiligung von Tätern, Billigenden, Duldenden, Zuschauern an den Gewaltaktionen unternommen.