Neue Ungleichheiten im Wohlfahrtsstaat
In der sozialwissenschaftlichen Literatur zur problematischen Gegenwart und unsicheren Zukunft des Wohlfahrtsstaates etablierte sich seit den neunziger Jahren eine veränderte Sichtweise des Strukturgefüges der Gesellschaft. Das dichotome Bild der "Innen-Außen"-Spaltung der Gesellschaft löste die Vorstellung einer geschichteten Mittelstandsgesellschaft altbundesrepublikanischer Prägung ab und dementierte zugleich die Diagnose einer postmodernen Verflüssigung sozialer Strukturen und Milieus. Seither ist in Soziologie und Sozialpolitik immer häufiger von Exklusion und Inklusion, von Ausgrenzung und Einbettung, von Überflüssigen und Integrierten die Rede.
Dieser Neuzuschnitt soziologischer Ungleichheitsdebatten ist zweifelsohne produktiv und liefert ein erweitertes Verständnis aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Doch dieser Erkenntniszugewinn fordert seinen Preis. In den laufenden Debatten drohen die Zusammenhänge und Prozesse aus dem Blick zu geraten, die das "Innen" und das "Außen", das "Zentrum" und die "Peripherie" aneinander binden. Zudem suggeriert das Bild einer "Innen-Außen"-Spaltung das Vorhandensein eines stabilen und homogenen gesellschaftlichen Zentrums, das diesseits exkludierter Randlagen angesiedelt ist. Schließlich lenkt die Dichotomie von "Innen" und "Außen" die Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Fluchtpunkte von Exklusionsprozessen: auf die wachsende Armut und die dauerhafte Arbeitslosigkeit. Diese Verlagerung der Aufmerksamkeit hat gute empirische Gründe, doch die Analyse der Entwicklung sozialer Ungleichheit darf sich nicht alleine mit dem Verweis auf die Expansion und die Abspaltung sozialer Randlagen begnügen. Das soziologische Interesse muss sich verstärkt auf berufliche und soziale Positionen des gefährdeten Wohlstands richten, ohne dabei materielle Armut und soziale Marginalität aus den Augen zu verlieren. Wenn der wirtschaftliche Strukturwandel die Kernbereiche der Arbeitswelt erreicht, wenn Familienstrukturen und Generationenbeziehungen ihre Gestalt verändern, wenn die Neujustierung wohlfahrtsstaatlicher Politik mehr und mehr auf die Mitte der Gesellschaft zielt, und wenn infolgedessen stabile Status- und Wohlstandspositionen fragil werden, dann ist es unabdingbar, die empirische und die sozialanalytische Perspektive zu erweitern.
Vor diesem Hintergrund zielt das Projekt darauf, die Begriffe "soziale Verwundbarkeit" und "prekärer Wohlstand" für die Theorie sozialer Ungleichheit, aber auch für die empirische Sozialstrukturanalyse nutzbar zu machen. Beide Begriffe markieren eine fragile, materiell und sozial unsichere Zone, in der es zwar noch nicht um Armut und Arbeitslosigkeit, um Marginalität und Ausgrenzung geht, aber in der der erreichte Lebensstandard und die erworbenen sozialen und beruflichen Positionen nicht sicher sind. In dieser Zone geht es um Abstiegswahrscheinlichkeiten und nicht um Exklusionsgewißheiten. Diese Neuformierung sozialer Ungleichheit fordert gleichermaßen die empirische Sozialstrukturforschung und die Sozialtheorie der Gegenwartsgesellschaft heraus. In konzeptioneller Hinsicht beabsichtigt das Projekt daher, die rechts- und politikwissenschaftliche Diskussion (wohlfahrts-)staatlicher Gestaltungsformen, Ordnungsprinzipien und Steuerungsleistungen mit der sozialstrukturanalytischen Frage nach neuen Formen sozialer Ungleichheit zu verknüpfen. Während das "wohlfahrtstaatliche Arrangement" über Jahrzehnte ein zuverlässiger Garant kollektiver sozialer Statussicherung bzw. Aufstiege war, wird nun der Entzug sozialer Statussicherung zu dem zentralen Bauelement der neuen Architektur staatlicher Aufgaben. In gesellschaftsdiagnostischer Absicht steht die Analyse der veränderten normativen Ordnungsvorstellungen wohlfahrtsstaatlicher Politik und deren Einfluss auf das Strukturgefüge sozialer Ungleichheit im Mittelpunkt des Projekts.