Der Dritte Weltkrieg und andere Kriege

Der Krieg der Zukunft in der britischen Militärpublizistik 1945-1971

(Stand Oktober 2007)

Die im Sommer 2007 abgeschlossene Untersuchung basiert auf der Analyse eines weiten Spektrums britischer Militärzeitschriften sowie zentraler Aktenbestände der britischen Verteidigungspolitik der Jahre 1945 bis 1971 – vom Ende des 2. Weltkrieges bis zum Abschluss des beinahe vollständiges Rückzuges britischer Herrschaft und britischer Truppen aus Übersee. Sie ordnet sich ein in die am Arbeitsbereich seit 2001 betriebenen Forschungsarbeiten zum Verhältnis von Militär, Krieg und Gesellschaft im Kalten Krieg. Darüber hinaus versteht sie sich als Beitrag zur Frage nach der Bedeutung des Kriegsbildes Kolonialkrieg/Kleiner Krieg/Asymmetrischer Krieg für westliche Militärapparate der Moderne; letztlich nach der Relevanz dieser Phänomene für eine Gewaltgeschichte des 20./21. Jahrhunderts überhaupt.

Der Kalte Krieg (1945-1989) hatte ein Doppelgesicht: Für die Nationen der nördlichen Hemisphäre war er eine Epoche des stabilen Friedens, überschattet von der Gefahr – und gleichzeitig gesichert durch die Drohung mit – der atomaren Weltvernichtung. Für die Völker der so genannten Dritten Welt hingegen war die Epoche des Kalten Krieges eine Ära mit mehr als 150 "heißen" Kriegen – viele von ihnen verliefen blutig, waren von langer Dauer und standen direkt oder indirekt mit der Blockkonfrontation in Zusammenhang.

Großbritannien hatte für die Dauer des Kalten Krieges je einen Fuß in beiden Lagern. In Europa stand das Königreich an der vordersten Front der Abschreckung, die dafür sorgte, dass die Blockkonfrontation kalt blieb. Großbritannien galt als "unsinkbarer Flugzeugträger" für eine eventuelle strategische Luftoffensive der NATO gegen den Warschauer Pakt. In Deutschland sollten die Rheinarmee und die 2. Taktische Luftflotte an der Verteidigung Westeuropas beteiligt sein.

In der Dritten Welt war Großbritannien zwischen 1945 und 1989 in mehr heiße Kriege verwickelt als irgendein anderes Land der Welt. Als Herz des größten Kolonialreiches der Erde, das nach dem 2. Weltkrieg sukzessive zum Commonwealth wurde, war London für die innere und äußere Sicherheit von Kolonien, Ex-Kolonien und Verbündeten in Übersee mitverantwortlich. Als Bedrohung der Sicherheit wurden, neben ethnischen, sozialen und territorialen Konflikten, während des Kalten Krieges auch tatsächliche oder vermeintliche Versuche der Infiltration oder Subversion durch Staaten des kommunistischen Blocks gesehen.

Die politische Bewertung dieses Doppelgesichts war kein Problem; der Kommunismus und der kalte Krieg waren globale Bedrohungen, und global hatte daher auch die Antwort auszufallen. Sie bestand in der Eindämmung des Kommunismus, entschlossenem Widerstand nach innen und außen sowie der Hebung des Lebensstandards, um die Attraktion sozialistischer Lehren gering zu halten. Die Streitkräfte des Vereinigten Königreiches und des Empire-Commonwealth aber stellte eben dieses Doppelgesicht des Kalten Krieges vor erhebliche Herausforderungen; denn sie waren mit äußerst widersprüchlichen Aufgabenstellungen konfrontiert:

1. Die strategischen Nuklearstreitkräfte bildeten das Rückgrat der Abschreckung. Sie wurden von allen britischen Nachkriegsregierungen als die ultima ratio des nationalen Überlebens angesehen. Es handelte sich zunächst um bemannte Bomber, später um land-, und dann um seegestützte Raketen. Die Nuklearstreitkräfte befanden sich in permanent hoher Kriegsbereitschaft, kamen aber – das war schließlich ihre Existenzberechtigung – nie zum Einsatz und waren für jede andere Aufgabe als zur Abschreckung unbrauchbar.

2. Für die Rheinarmee und die taktischen Luftstreitkräfte in Deutschland stand ebenfalls die Abschreckungswirkung im Vordergrund. Doch ging es in ihrem Falle darum, dem potentiellen Gegner glaubwürdig zu vermitteln, dass die Streitkräfte Willens und in der Lage waren, einen Dritten Weltkrieg führen zu können. Der potentielle Gegner waren die hochgerüsteten konventionellen Streitkräfte der Warschauer Vertragsstaaten, das Gefechtsfeld die norddeutsche Tiefebene. Die britischen Truppen in Deutschland mussten sich mithin auf einen schnellen, hochintensiven mechanisierten Krieg der gepanzerten Verbände, unterstützt von taktischen Atomwaffen, einstellen.

3. Die Wahrung der Inneren Sicherheit in abhängigen Gebieten (auch die Unterstützung von Verbündeten, meist ehemaligen Kolonien) war, begründet durch die Kolonialgeschichte, eine Kernkompetenz der britischen Streitkräfte. Sie erforderte zum einen Infanterie und bestenfalls Panzerspähwagen; aber zum zweiten vor allem Zeit, Geduld und Verständnis für die Umstände vor Ort. Idealerweise erforderte sie langdienende Garnisonen in Übersee; denn hier zählten Menschen und nicht Material.

4. Heiße Kriege in Übersee, die Zeitgenossenen sprachen von begrenzten Kriegen, umfassten alles, was zwischen dem Dritten Weltkrieg und dem Einsatz für die Wahrung der inneren Sicherheit lag. Gemeint ist damit die gesamte Skala von der hypothetischen Verteidigung Hongkongs gegen einen chinesischen Angriff oder der Invasion in Ägypten anlässlich der Suezkrise bis zur zwölfjährigen "Counterinsurgency" (Aufstandsbekämpfung) in Malaya 1948-1960. Die Einsatzprofile waren so unterschiedlich wie die Weltgegenden und die Intensität der möglichen Konflikte. Die eingesetzten Kräfte konnten Kompanie-, aber auch Korpsstärke haben, die Waffensysteme reichten von taktischen Atomwaffen bis zu Special Forces, und Soldaten wie Gerät mussten für den Dschungel ebenso tauglich sein, wie für die Wüste, das Gebirge oder die Arktis.

5. Dieses weite Spektrum klassischer und moderner militärischer Aufgaben wurde zusätzlich durch die Tatsache kompliziert, dass sich die britischen Streitkräfte auch in einem politisch-ideologischen Sinne als permanent an der Front des Kalten Krieges befindlich betrachteten. Daher gehörten auch Propaganda und psychologische Kriegführung nach innen und außen – die weltanschauliche Auseinandersetzung mit dem Ostblock ebenso wie mit der eigenen Gesellschaft – zum soldatischen Aufgabenspektrum.

Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung Großbritanniens nach 1945 führte dazu, dass den Streitkräften für diese vielfältigen und widersprüchlichen Anforderungsprofile immer weniger Mittel zur Verfügung standen. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt des Königreiches sank, von einer Aufrüstungsphase während des Koreakrieges abgesehen, während des Kalten Krieges permanent ab, der Gesamtumfang der Streitkräfte wurde von über 800.000 Mann in den späten Vierziger Jahren auf gut 300.000 in den Siebziger Jahren reduziert. Der stete Zwang zu immer neuen Einsparungen, den die britische Politik auf ihre Streitkräfte ausübte, machte eine Prioritätensetzung unvermeidlich. Die Frage nach dem korrekten Kriegsbild wurde immer drängender. Hierbei ging es um eine langfristige, verlässliche und möglichst konkrete Einschätzung von Gestalt, Dauer und Verlauf eines kommenden bewaffneten Konfliktes, die verbindlich Auskunft geben können sollte, wie man die Streitkräfte am besten strukturieren, bewaffnen, ausrüsten und auszubilden habe. Davon hingen nicht nur scheinbar simple Fragen ab wie die, ob die persönliche Ausrüstung eines Infanteristen tropen- oder arktistauglich sein musste, oder ob man eine Panzeraufklärungskompanie in Aden oder besser in Bielefeld stationierte, sondern auch ganz fundamentale, wie die, ob man z. B. hunderte Millionen Pfund teure neue Flugzeugträger – und die dazu passenden Flugzeuge – oder eine Bomberbasis im indischen Ozean benötigte. Nach britischer Auffassung war auch die Entscheidung, ob man die allgemeine Wehrpflicht oder eine Berufsarmee wolle, von der Vorstellung vom wahrscheinlichsten künftigen Krieg determiniert.

Die Frage nach dem Kriegsbild war von existentieller Bedeutung für die Streitkräfte und für die Verteidigungspolitik Großbritanniens – für einen Politikbereich mithin, der zwischen 7% und 5% des Bruttosozialproduktes auffraß. Sie war ferner für das schwierige Verhältnis von Gesellschaft und Militär im Kalten Kriege grundlegend, denn, nur wenn die Streitkräfte glaubhaft machen konnten, dass der Konflikt, auf den sie sich vorbereiteten, für die Gesamtgesellschaft relevant war, konnten sie begründet auf finanzielle und personelle Ressourcen zu Lasten des Volkswohlstandes Anspruch erheben. Über die Jahre bedurfte es daher immer eingehender Begründungen der Militärs, weshalb etwa Panzer in Nordrhein-Westfalen, Special Forces auf Borneo, Kreuzer in der Karibik und Flugzeuge in Oman zum nationalen Überleben Britanniens gehörten.