Wie individuelles Leben bestimmt und Geschichte gemacht wird
Während des Völkermords in Ruanda sind zwischen April und Juli 1994 ca. 800.000 Menschen umgebracht worden, die allermeisten von ihnen waren Tutsi. Der Völkermord kam nicht ohne Vorwarnung. Er war die extreme Eskalation eines Krieges, der am 1. Oktober 1990 begann und mit der Eroberung des Landes im Juli 1994 endete. Die Folgen sind in der Region, vor allem in der Demokratischen Republik Kongo, bis heute spürbar.
Das Projekt befasst sich mit der Entwicklung Ruandas zwischen Juni 2002 und Juni 2012. Im Juni 2002 fand der erste Prozess der traditionellen ruandischen Gacaca-Justiz statt, im Juni 2012 schloss eine feierliche Zeremonie unter Beteiligung vieler Gäste aus dem In- und Ausland die Phase der Völkermordaufarbeitung mittels dieser Form der Justiz ab. Die Gacaca-Justiz bildet somit die zeitliche Klammer der Untersuchung, zumal sie den weltweit bislang einzigartigen Versuch darstellt, Völkermordverbrechen mit den Mitteln der traditionellen Justiz zu ahnden.
Gefragt wird, wie Gacaca in der ruandischen Tradition verwurzelt ist, was die Charakteristika dieser Rechtsprechung waren und wie diese für die Ahndung von Völkermordverbrechen nutzbar gemacht wurden. Dabei geht es insbesondere um die Frage, inwieweit Gacaca zu einer Annäherung zwischen den Bevölkerungsgruppen der Hutu und Tutsi beigetragen hat und möglicherweise sogar das Fundament für einen Versöhnungsprozess schaffen konnte.
Da Gacaca im Zentrum der ruandischen Versuche der Vergangenheitsaufarbeitung steht, kommt dieser Justiz eine weit größere Bedeutung als eine bloß justizielle zu. Gacaca fördert und festigt die Auslegung historischer Phänomene und beeinflusst so entscheidend die Herausbildung eines bestimmten Narrativs. Es befindet sich gewissermaßen an der Basis eines neuen ruandischen Selbstverständnisses, das bewusst mit dem alten, in einer Hutu-Tutsi-Dichotomie erstarrten Regime brechen will. Und dieser Umstand führt zu weiteren Fragestellungen, nun jenseits der eigentlichen Sphäre der Justiz. Wie und mit welchen Inhalten ist das Bildungssystem des „neuen“ Ruanda ausgestattet? Wie funktionieren Justiz und Verwaltung? Was sind die Schwerpunkte der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land, das das dichtestbesiedelte Afrikas ist? Welchen Überlegungen und Prinzipien folgt die ruandische Außenpolitik? Und natürlich: Wie kommt das, was auf politischer Ebene entschieden wird, bei den Ruanderinnen und Ruandern an? Akzeptieren sie oder identifizieren sie sich sogar mit diesem Narrativ, das ihnen auf den verschiedenen Ebenen der Judikative, Exekutive und Legislative gegenübertritt?
Es scheint, dass Ruanda auch gut zwanzig Jahre nach dem Völkermord noch ein tief gespaltenes Land ist. Das wird angesichts der vergangenen Dimension der Gewalt nicht verwundern, wohl aber der Beitrag, den das neue Ruanda in autoritärer Weise dazu geleistet hat.
Das Projekt ist abgeschlossen, das Buch über die Untersuchung zum ruandischen Völkermord erscheint demnächst.
(Stand Februar 2014)
Publikation
Gerd Hankel: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird, Springe: zu Klampen! Verlag, 2016