Erinnern als Überschritt
1993 rief der Entschluss der Bundesregierung, die zur Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft umgestaltete Neue Wache in Berlin mit einer vierfach vergrößerten Ausfertigung der von Käthe Kollwitz geschaffenen Skulptur Mutter mit totem Sohn zu versehen, Kontroversen hervor. Zu den schärfsten Kritikern dieser vor allem vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl forcierten Umwidmung gehörte Reinhart Koselleck, der wiederholt und für seine Verhältnisse ungewöhnlich lautstark gegen die „aufgeplusterte Pietà“ öffentlich Stellung bezog. Weder als Realaussage noch als symbolische Darstellung sei die Pietà der Kollwitz geeignet, „um an das alle Generationen und alle Geschlechter und alle Völker erfassende Massensterben und eben auch das Massenmorden zu erinnern, für das wir Deutsche einzustehen haben“.
Die Kontroverse, bei der es für Koselleck im Kern um die ästhetische Darstellung des Sinnlosen ging, erweist sich rückblickend als der Beginn eines geschichtspolitischen Engagements, das man zuvor von dem Bielefelder Historiker, beispielsweise während des sogenannten Historikerstreits 1986/87, in dieser Form nicht kannte. Ob Neue Wache oder Holocaust-Denkmal – Koselleck äußerte sich fortan ebenso deutlich wie zunehmend polemisch zu den in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren verhandelten erinnerungs- und geschichtskulturellen Großprojekten. Der naheliegende Rückschluss, in diesen Interventionen spiegele sich eine intensive Beschäftigung Kosellecks mit den seit den späten 1980er Jahren reformulierten kulturellen Erinnerungs- und Gedächtnistheorien wider, erweist sich gleichwohl als voreilig, zumindest kommt dem Begriff Erinnerung in seinem Gesamtwerk eine erstaunlich nebensächliche Bedeutung zu. Seine dezidiert kritischen Äußerungen zum immer wieder behaupteten Wirkungszusammenhang zwischen kultureller Erinnerung und kollektiver Identität verweisen darauf, dass er Erinnern stets in Beziehung gesetzt hat zu anderen, von ihm theoretisch stärker reflektierten Begriffen. Will man sich also seinem Verständnis historischen Erinnerns nähern, besteht die Herausforderung darin, Erinnern als ein zwar anthropologisch gegebenes, gleichwohl historiographisch nachrangiges Element eines begrifflichen Gefüges zu denken, das von Koselleck allerdings weder systematisch entwickelt noch theoretisch durchgearbeitet wurde.
Im Zentrum des Projektes steht somit der Versuch, Erinnern in der (hier verkürzt so bezeichneten) Koselleck’schen Verzeitlichungstheorie der Moderne zu verorten. Insgesamt lässt sich anhand der Schriften und hinterlassenen Aufzeichnungen deutlich machen, dass es Koselleck zeitlebens darum ging, die individuelle wie kollektive Verarbeitung von Selbst- und Fremderfahrungen als Kernelement einer reflexiven Historik zu identifizieren und die symbolische wie auch narrative Darstellung dessen, was historisch geschehen ist, als eine spezifische Wissensform analytisch zu fassen. Generativität/Generation, Erfahrungswandel und Geschichtlichkeit waren für diese Historische Anthropologie die entscheidenden Parameter. Historie als Wissenschaft könne nur bestehen, so Koselleck in Auseinandersetzung mit Hans-Georg Gadamer, wenn sie „eine Theorie der geschichtlichen Zeiten“ entwickele, die allerdings angesichts „der Anschauungslosigkeit der reinen Zeit“ dem Zwang zur Metaphorik unterliege.
Das Nachleben vergangener Geschehnisse im Modus des Erinnerns fügt sich bei Koselleck in ein Transformationsgeschehen ("Überschritt"), das sich nicht auf eine ursprüngliche Faktizität beziehen kann, sondern, wie es Maurice Halbwachs formuliert hat, „in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten“ ist und „im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet“ wird. Dass Koselleck eine solche Perspektive auf Erfahrungswandel und Erinnerungsschichten nicht mehr mit seinen theoretischen Arbeiten über Zeit und Zeitlichkeit zusammengeführt hat, bildet im geplanten Buchprojekt den Ausgangspunkt einer Werkbetrachtung, die sich gleichwohl davor hüten muss, die oftmals eher begrifflich inkonsistenten Texte Kosellecks nachträglich zu systematisieren.
(Stand Juli 2020)