Geordnete Affekte?
Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich bisher vornehmlich mit Affekten in und mit Mengen und Massen befasst. Die Verunsicherungen, die beim Warten in der Schlange entstehen, sind dagegen bisher ein wenig genutzter Zugang zu der Frage, wie Affekte an sozialer Ordnungsbildung beteiligt sind.
Wo Warteschlangen sind, da geht es – so meint man gemeinhin – gerecht zu. Sie entlasten die Beteiligten davon, selbst eine gerechte Reihenfolge aushandeln zu müssen. Insofern können sie sich weitgehend passiv verhalten – oder sich in der Warteschlange anderen Tätigkeiten zuwenden. Der Preis für diese vorgegebene Ordnung ist, dass Gerechtigkeitskriterien, die sich nicht mit der Warteschlange vereinbaren lassen (z.B. Leistungskriterien, Marktstellung oder soziale Herkunft), außen vor bleiben. Strapazieren Warteschlangen also das Gerechtigkeitsempfinden der Beteiligten, dann wäre das eine Frage der äußeren Bedrohung. Wer gegen die Ordnung der Warteschlange verstößt, dem muss unterstellt werden, dass er oder sie ein anderes Gerechtigkeitsprinzip als vorranging ansieht und in die Schlange einschmuggelt.
Wer dieser Auffassung folgt, nimmt für Warteschlangen in Anspruch, dass sie nur ein Gerechtigkeitsprinzip zulassen. Verstöße und Vordrängeln stellen dann nur Ausnahmen dar, die diese Regel als eindeutig und gerecht bestätigen. Dieser Interpretation lässt sich jedoch eine alternative Konzeptualisierung entgegenstellen, die bei der folgenden Beobachtung ansetzt.
Der Vorwurf, sich nicht hinten angestellt zu haben, wiegt schwer. Er führt oft dazu, dass die Angeschuldigten die Warteschlange leugnen ("Welche Schlange?"). Insofern riskiert, wer auf die Ordnung der Warteschlange hinweist, einen Konflikt, um einen unsicheren Gegenstand, mit einem ungewissen Verlauf. Doch obwohl eine unabhängige Autorität höchst selten bereitsteht und obwohl sich dieser Konflikt in aller Regel auch nicht ausdiskutieren lässt, eskaliert er selten. Wie also wird der Ärger bearbeitet? Wie werden Affekte transformiert und in welchem Zusammenhang steht diese Transformation mit sozialer Ordnungsbildung?
Irgendwie wissen sich die Beteiligten also mit der Schlange zu arrangieren. Während der bloße Tatbestand der ärgerlichen (wahrgenommenen) Wartezeit in Schlangen herkömmlichen sozialwissenschaftlichen Erklärungen keine Probleme bereitet, fehlt der Forschung bisher ein Verständnis für das Affektmanagement in der Warteschlange. Diese Lücke zu bearbeiten, verspricht, die Affektforschung näher und systematischer an Situationen heranzuführen, in denen sich Gerechtigkeitsvorstellungen aktiv bemerkbar machen. Auf der anderen Seite lassen sich auf diese Weise in einem überschaubaren Rahmen analytisch schwer greifbare Konflikte untersuchen, die für soziale Ordnungsbildung bedeutsam sind: Konflikte, bei denen weitgehend in stummer Weise unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen aufeinanderprallen. Wie lässt sich dieser Modus der Konfliktbearbeitung genauer charakterisieren? Was bringt die Beteiligten zur Kooperation? Mittels welcher Tätigkeiten bestimmen sie die Grenzen der Warteschlange?
Diese Fragen lassen sich nur bearbeiten, wenn anstelle einer fixen Regel und ihrer passiven Befolgung die normativen Aktivitäten der Beteiligten in den Vordergrund rücken. Die Wartenden selbst verbinden aktiv unterschiedliche normative Ansprüche zu unsicheren, kompromittierenden und anfechtbaren Mischungen. In der Tat laufen Konflikte in und um Warteschlangen typischerweise auf ein vorübergehendes (außerdiskursives) "Stillstellen" hinaus. Die Beteiligten arrangieren sich schon irgendwie, aber ohne Aussicht darauf, dass der Konflikt beim nächsten Mal einen anderen Verlauf nimmt.
Erscheint diese kontrastierende Sichtweise, die Zumutungen normativer Arbeit beleuchtet, plausibel, dann lassen sich Warteschlangen, obwohl sie natürlich auch in autoritären Staaten vorkommen, als demokratische Milieus charakterisieren. Ausschlaggebend für diese begriffliche Umstellung ist, ob der Ärger in und mit Warteschlangen ernst zu nehmen ist. Wer sich darauf einlässt, kann einige Aspekte der Robustheit und Fragilität demokratischer Strukturen am Beispiel der Warteschlange wiederfinden und an einem konkreten Fall analysieren.
Damit ist der Rahmen einer Untersuchung skizziert, die in zwei Etappen vorgeht. Zunächst geht es um affekttheoretische Einwände gegen die herkömmliche Forschung zu Warteschlangen. Dann sind mehrere Teilstudien anzusetzen, die der Vielfalt, Verbreitung und Verteilung von Warteschlangen gerecht werden und darin demokratische Milieus aufzuspüren versuchen.
(Stand Januar 2015)