Das Teilprojekt „Erfahrungsberichte“ besteht aus zwei voneinander unabhängigen Vorhaben:
1. Datenerhebung für das Mapping #NoG20-Projekt
2. Auswertung historischer Bestände im HIS-Archiv
1. Datenerhebung
Gesammelt werden schriftliche Erfahrungsberichte, in denen Demonstrant*innen, Anwohner*innen, Journalist*innen, Rettungspersonal und andere ihre Eindrücke von den Protesttagen schildern. Ein Flyer informiert die Zielgruppen über Konzept, Fragestellung und Zielsetzung von Mapping #NoG20 und gibt Hinweise zum Abfassen der Berichte. Informationen zum Datenschutz und eine datenschutzrechtliche Einverständniserklärung können auf der Website heruntergeladen werden und sollten den Erfahrungsberichten beiliegen.
Personen, die sich beteiligen möchten, werden gebeten, die von ihnen geschilderten Ereignisse zeitlich und räumlich möglichst genau zu verorten und auch die Bewegungen der Akteur_innen im Raum wiederzugeben. Wer stand wann wo und wie bewegten sich die Akteur_innen im Laufe des Geschehens? Auf der Website von Mapping #NoG20 sind Stadtpläne als Downloads verfügbar, die zur Orientierung dienen und auf denen die Berichterstatter_innen Ereignisse und Bewegungsverläufe einzeichnen können.
Darüber hinaus bieten die Erfahrungsberichte die Möglichkeit, das persönliche Erleben der Protesttage zu schildern. Wie haben die Berichterstatter_innen die Situationen wahrgenommen, mit welcher Stimmung und welchen Erwartungshaltungen sind sie in die Ereignisse hineingingen? Veränderte sich ihre subjektive Haltung im Verlauf der Protesttage? Auch Berichte über soziale Begegnungen und die alltäglichen Dimensionen des Protestgeschehens (Versorgung, Unterbringung, das Leben „zwischen den Aktionen“) würden unsere Forschung und das Bild, das wir nachfolgenden Generationen von den Protesttagen überliefern können, bereichern.
Die im Rahmen des Projektes erhobenen Daten werden – soweit noch erforderlich – anonymisiert, in dieser Form für die Anfertigung des Projektberichts Mapping #NoG20 verarbeitet und im Hamburger Institut für Sozialforschung archiviert. Anonymisierte Daten sollen auch für weitere Forschungsarbeiten zur Verfügung gestellt werden.
2. Auswertung historischer Bestände im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Das im Rahmen von Mapping #NoG20 erhobene Quellenkonvolut wird im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung einen Teilbestand der Sondersammlung Protestbewegungen bilden. Dieser Bestand umfasst unter anderem Überlieferungen zur Geschichte der APO/Studentenbewegung, der RAF und des Sozialistischen Anwaltskollektivs.
Darin befinden sich außerdem die Akten des Ermittlungsausschusses 2. Juni 1967, den der AStA der FU Berlin nach der Erschießung Benno Ohnesorgs bei der Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien ins Leben rief. Damit unternahm zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte eine nichtstaatlichen Einrichtung den Versuch, ein Protest- und Gewaltereignis zu dokumentieren und aufzuarbeiten. Da die Aktivist_innen der Studierendenbewegung der Polizei und Staatsanwaltschaft keine unparteiische, rückhaltlose Aufklärung der Ereignisse zutrauten, stellten sie eigene Ermittlungen an. Sie sammelten Zeugenaussagen, dokumentierten Verletzungen und Verhaftungen. Mittels öffentlich ausgestellter Fototafeln versuchten sie zudem Polizisten zu identifizieren, die im Rahmen des Polizeieinsatzes bei gewalttätigen Übergriffen auf Demonstrierende beobachtet und/oder fotografiert worden waren. Seinem Selbstverständnis nach war der Ermittlungsausschuss 2. Juni 1967 ein Akt des kollektiven Widerstandes gegen die staatliche Repression und öffentliche Diffamierung der Studentenbewegung.
Ähnliche Ermittlungsausschüsse gab es in den folgenden Jahren auch nach anderen gewalttätigen Konfrontationen zwischen Studierenden und Polizei, z.B. nach den „Osterunruhen“ infolge des Attentats auf Rudi Dutschke 1968 und der „Schlacht am Tegeler Weg“ am 4. November 1968. Am 1. Mai 1969 gründete sich im sozialen Umfeld der Ermittlungsausschüsse das Sozialistische Anwaltskollektiv (Klaus Eschen, Horst Mahler, Hans-Christian Ströble, Ulrich K. Preuß). Seine Mitglieder verteidigten die Aktivist_innen der Studentenbewegung, wobei sie u.a. auf die Ergebnisse der Ermittlungsausschüsse zurückgriff.
Ausgehend vom Ermittlungsausschuss 2. Juni 1967 entwickelten sich innerhalb verschiedener Städte, zumeist im Umfeld des AStA oder des lokalen Republikanischen Clubs, Gruppen, welche die Prozesse gegen Aktivist_innen kritisch begleiteten oder die Justiz generell in Frage stellten. Bundesweit schlossen sie sich zu einer „Justizkampagne“ zusammen. Unter anderem wegen dieses Engagements kam es 1970 zu einer Amnestie aller in diesen Prozessen Verurteilten (Straffreiheitsgesetz, 20. Mai 1970).
Zwischen 1967 und 1970 entstanden innerhalb weniger Jahre die wesentlichen Konzepte und Strukturen linker Antirepressionsarbeit, die bis in die Gegenwart jedes größere Protestereignis begleiten. Ziel des Projektes ist eine Rekonstruktion dieser Konstituierungsphase der Antirepressionsarbeit. Gefragt wird nach Akteur_innen, Strukturen, Organisations- und Aktionsformen sowie nach Institutionalisierungsprozessen in der Antirepressionsarbeit.
In einem zweiten Schritt soll ein diachroner Vergleich zwischen nichtstaatlichen Ermittlungsausschüssen bzw. Dokumentationsprojekten angestellt werden (z.B. Reading the Riots zu den Ausschreitungen in London im Sommer 2011). Zu fragen ist nach den beteiligten Akteur_innen, nach ihren Zielsetzungen und ihrem Selbstverständnis sowie ebenfalls nach Institutionalisierungsprozessen. Die Untersuchung verspricht Aufschluss zu geben über das Verständnis von (Rechts)Staat und Demokratie, das sich in solchen Ausschüssen und Projekten manifestiert, sowie über die Praktiken zivilgesellschaftlichen Handelns.
Durch den diachronen Vergleich soll ein Bogen bis in die Gegenwart geschlagen werden, um so das Quellenkonvolut des Mapping #NoG20-Projektes in den Gesamtbestand des Archivs am Hamburger Institut für Sozialforschung und in den historischen Kontext einzuordnen.