Sozialpolitik im Spannungsfeld nationalstaatlicher Traditionen und europäischer Neuordnung
Finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fondation Maison des Sciences de l’Homme (FMSH) und der Villa Vigoni.
Sozialpolitik in Europa steht heute in einem Spannungsfeld von nationalstaatlichen Strukturen, europarechtlich begründeten Ansprüchen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die sich aus den Transformationen des industriellen Kapitalismus ergeben. Dieses Spannungsverhältnis soll im Rahmen des Projekts in drei trilateralen Forschungskonferenzen in den Blick genommen werden.
Das Feld der Sozialpolitik in der Europäischen Union ist eine multi-level-governance par excellence geworden, wobei die Kernfunktionen der Versorgung und Umverteilung nach wie vor bei den Nationalstaaten liegen. Die Frage, wie umverteilt wird, was sozialpolitische Leistungen sind und vor allem wer in den Kreis der Anspruchsberechtigten gehört und wer nicht, kann längst nicht mehr souverän in den Mitgliedstaaten ausgehandelt werden. In diesen Aushandlungsprozessen, die zugleich dazu beitragen, die europäische Ebene zu konstituieren und zu legitimieren, treffen ganz unterschiedliche Wohlfahrtsstaatsmodelle und differente historisch gewachsene Wohlfahrtskulturen mit ihren verschiedenen sozialpolitischen Praktiken aufeinander. So unterscheiden sich zum Beispiel die italienische, französische und deutsche Wohlfahrtsstaatlichkeit einerseits qualitativ in den Fragen, wer anspruchsberechtigt ist, mit welchem gesellschaftlichen Ziel sozialpolitisch interveniert wird, was gerechtfertigte Ansprüche sind und schließlich wer dafür zuständig ist, diesen Ansprüchen zu entsprechen. Andererseits lassen sich quantitative Unterschiede im Leistungsniveau der Wohlfahrtsstaaten ausmachen.
Deutschland, Frankreich und Italien werden in der klassischen vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung – neben einer Vielzahl an Gemeinsamkeiten – auch unterschiedliche Merkmale und institutionelle Eigenheiten zugeschrieben. Jedes dieser drei Länder verkörpert – trotz einer vergleichbaren Organisation nach Berufsgruppen und trotz einer weitgehenden Lohnarbeitszentrierung der Sozialpolitik – in der Diktion der Wohlfahrtsstaatstypologie nach Esping-Andersen eine eigene Spielart des konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaats kontinentaleuropäischer Prägung.
Während in Deutschland bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein umfassendes, weitgehend staatlich organisiertes und nach Berufsgruppen stark differenziertes System sozialer Absicherung etabliert war, ist der französische Sozialstaat deutlich jünger. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ausgehend von den mutualités (nach Berufsgruppen organisierte Vereinigungen zur Versicherung auf gegenseitige Hilfe) grundlegende und mit dem deutschen Modell vergleichbare Elemente der Sozialstaatlichkeit in Frankreich eingeführt. Italien wiederum steht in der Wohlfahrtsstaatsforschung für die Spielart des rudimentären Wohlfahrtsstaats südeuropäischer Prägung mit einer starken Bedeutung familiärer Unterstützungsnetzwerke und familiärer Bindungen. Der Staat bildet zwar das Zentrum sozialer Umverteilung und kompensatorischer Leistungen; er wird jedoch insgesamt als zu schwach betrachtet, um diese Rolle adäquat auszufüllen. Auch die Gerechtigkeitsvorstellungen und Anspruchsniveaus hinsichtlich der Bereitstellung öffentlicher Güter und sozialpolitischer Leistungen unterscheiden sich erheblich zwischen Deutschland, Frankreich und Italien.
Gleichwohl lassen sich gegenwärtig in allen europäischen Wohlfahrtsstaaten ähnliche Transformationen der "wohlfahrtsstaatlichen Arrangements" beobachten:
Erstens gerät aufgrund des steigenden finanziellen Drucks vor allem in Folge des demographischen Wandels der Einzelne und seine Familie zunehmend – unter anderem auch unter europäischen Vorzeichen – in den Fokus soziapolitischer Reformen. So werden Leistungsansprüche dahingehend überprüft, ob private Mittel die staatliche Unterstützung ersetzen und über den Markt geregelt werden können. Diese zunehmende "Ökonomisierung", führt zu neuen Konfigurationen privater und öffentlicher Aufgabenverteilung.
Zweitens lässt sich ein neuer, der Logik sozialer Absicherung in den konservativen Wohlfahrtsstaaten entgegengesetzter, Trend zur "Defamilialisierung" beobachten: Gegenwärtige Sozialpolitik zielt nicht mehr nur auf eine zeitlich begrenzte Befreiung von den Zwängen des Markts (Dekommodifizierung) – etwa im Fall von Krankheit, biographischer Situation etc. – sondern strebt auch darauf hin, die Last familialer Arbeit auszulagern und dadurch unter anderem die Arbeitsmarktteilnahme von Frauen zu verstärken.
Drittens kommt es in Deutschland, Frankreich und Italien zu Tendenzen einer "Remoralisierung" in der Sozialpolitik: Die sozialpolitischen Reformen, die zu Ökonomisierung und Defamilialisierung führen, werden moralisch begründet, und nicht als politische Antworten auf weltwirtschaftliche und soziodemographische Strukturveränderungen.
Die Forschungskonferenzen fokussieren konkrete sozialpolitische Kontroversen, in denen institutionelle wie auch soziale Akteure sozialpolitische Arrangements als problematisch beschreiben, und fragen nach den europäischen Wissensbeständen, die die Akteure in den Kontroversen mobilisieren. Diese Fokussierung soll zur Stärkung einer geschichts- und sozialwissenschaftlichen Europaforschung beitragen, die sozialpolitische Europäisierungsprozesse in "EU-fernen" Handlungssituationen berücksichtigt und sich von teleologischen wie auch elitären Vorstellungen über das richtige oder gute Europa löst. Der Austausch zwischen den Forscherinnen und Forschern aus Italien, Frankreich und Deutschland soll zudem ein länderübergreifendes Verständnis für die gegenwärtigen sozialpolitischen Herausforderungen ermöglichen und das Bewusstsein für die lokalen sowie länderspezifischen Auswirkungen der Europäisierungsprozesse schärfen.
Das Erkenntnisinteresse richtet sich dabei insbesondere auf die Fragen, wann und warum die Akteure vor dem jeweils deutschen, französischen oder italienischen sozialpolitischen Hintergrund auf Europa Bezug nehmen oder nicht Bezug nehmen, und welche Semantiken Europa im Zuge dessen zugeordnet oder abgesprochen werden.
In drei Schritten wird gefragt: welche Handlungsbühnen die deutschen, französischen und italienischen Traditionen und Routinen der Sozialpolitik mit welcher sozialpolitischen Zielsetzung festlegen; auf welcher Ebene (scale / échelle) über die Berechtigung auf sozialpolitische Ansprüche nach welchen Kriterien entschieden wird; und welche Möglichkeiten die beteiligten Akteure haben, um Berechtigungen, individuelle Bedürfnisse und allgemeine soziale Entwicklungen aufeinander zu beziehen.
Im Hinblick auf diese Fragen dient das erste Treffen zum einen einer wechselseitigen Verständigung unter den Teilnehmenden über die drei Wohlfahrtsstaatsmodelle und -kulturen (23.-26.11.15).
Im Zentrum des zweiten Treffens steht die Auseinandersetzung mit ausgewählten sozialpolitischen Kontroversen in den drei Ländern.
Im dritten Treffen geht es um die europäischen Wissensbestände, die die sozialpolitischen Kontroversen in den drei Ländern leiten und durch diese generiert werden.
Das Projekt wurde von PD Dr. Nikola Tietze (Hamburger Institut für Sozialforschung), Prof. Jay Rowell (MISHA – Maison des Sciences de l’Homme d’Alsace, Strasbourg) und Prof. Yuri Kazepov (DESP – Dipartimento di Economia, Societa Politica, Universität Urbino) beantragt.
Die Konferenzen finden in einem Zeitraum von 3 Jahren einmal jährlich in der Villa Vigoni statt. Sie werden finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fondation Maison des Sciences de l’Homme (FMSH) und der Villa Vigoni.
Tagungen
Tagungsprogramm
Programm zur Tagung 29. Mai bis 1. Juni 2017 als PDF
Tagungsbericht
Bericht zur Tagung 5.-8. September 2016 als PDF
Tagungsprogramm
Programm zur Tagung 5.-8. September 2016 als PDF
Tagungsbericht
Bericht zur Tagung im November 2015 (Nikola Tietze auf H-Soz-Kult)