BRUCHLINIEN DER DEMOKRATIE | GEWALT – SOUVERÄNITÄT – TERRITORIALITÄT

Zum Call für Fellowships im Historisch-Soziologischen Forschungskolleg Bruchlinien der Demokratie: Gewalt – Souveränität - Territorialität des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) zum Thema "Excessive State Power and State Killings in Democracies"

Historisch-soziologisches Forschungskolleg am Hamburger Institut für Sozialforschung 2026-2027

Die Demokratie in Europa steht gegenwärtig Herausforderungen gegenüber, die von vielen als drohender Bruch mit dieser voraussetzungsvollen Staatsform gedeutet werden. Wesensmerkmal liberaler Demokratien ist die Institutionalisierung eines sich selbst regierenden Staatsvolks, das Staatsgewalt innerhalb eines souveränen Rechtsraumes ausübt und kontrolliert. Ein zentrales Kennzeichen liberaler Demokratien ist, dass sie Konflikte in kanalisierter Form austragen, etwa durch die Delegation politischer Entscheidungsbefugnisse nach freien Wahlen. Jedoch werden jüngst tragende Elemente dieses Ordnungsmodells angefochten: Politische Auseinandersetzungen polarisieren sich schnell, die Bereitschaft des Sich-Einlassens auf die Argumente des politischen Gegners schwindet, er wird zum Feind, wodurch sogar der Rückgriff auf Gewalt möglich wird oder gar geboten erscheinen kann. Mit sinkenden Hoffnungen auf die Herrschaft des Volkes nehmen auch deren Zustimmungswerte ab; gleichzeitig erfahren sich liberale Demokratien als militärisch bedroht, rüsten auf und debattieren ihre Wehrhaftigkeit nach innen und nach außen – für die einen das Gebot der Stunde, für andere die Bekräftigung einer zunehmenden Illiberalität des liberalen Westens. Die europäische Gegenwart ist somit von einer neuen Präsenz demokratischer Bruchlinien geprägt.

Allerdings bleibt fraglich, ob sich daraus schon eine Verfallsdiagnose ableiten lässt. Die Garantie einer stets „progressiver“ werdenden, sich irgendwie selbstverständlich fortentwickelnden Demokratie gibt es nicht. Was genau und in welchem Umfang demokratisiert wird, war noch nie von vornherein ausgemacht, sondern stets umkämpft. Es erscheint deshalb wenig sinnvoll, lediglich immer ausgefeiltere, entweder die gute alte Zeit aufrufende oder mit Blick auf die Zukunft allzu utopisch klingende normative Demokratiemodelle zur Diskussion zu stellen. Das Forschungskolleg des Hamburger Instituts für Sozialforschung setzt dagegen eine historisch-soziologische Perspektive, die danach fragt und unterscheidet, welche Bruchlinien den (europäischen) Demokratien immer schon eingeschrieben waren und welche neu hinzukommen, wo Bruchlinien unter Spannung geraten und woran sie zu brechen drohen. Es konzentriert sich mit der Ausrichtung auf Staatsgewalt und Demokratie, monetäre und demokratische Souveränität sowie demokratische Territorialität auf die Bruchlinien zentraler Bauelemente der Demokratie.

Zum Verhältnis von Staatsgewalt und Demokratie

Demokratie beruht nicht nur auf der Einhegung von Gewalt, sondern auch auf deren Ausübung in Form der Staatsgewalt. Dabei muss demokratische Staatsgewalt insbesondere in strikter Bindung an die verfassungsrechtliche Ordnung handeln. Indes widersprach dieser Idee schon immer die staatliche Praxis. Dies gilt vor allem für die bewusst in Kauf genommene oder gezielte Verletzung der Verfassung durch staatliche Institutionen. Im Zentrum der geplanten Forschung steht mithin die exzessive Gewaltausübung staatlicher Sicherheitsorgane – Geheimdienst- und Polizeikräfte sowie Militär –, welche Verfassung und Recht zumeist unter Geheimhaltung missachten. Die Beispiele solchen Handelns reichen von der gewaltsamen Niederschlagung politischer Proteste und der Förderung gewaltsamen Umsturzes im Ausland bis hin zu gezielten Tötungen sogenannter „Staatsfeinde“. Indem der Staatsapparat gewaltsam auf – tatsächliche oder vorgebliche – gewaltsame Bedrohungen aus der Gesellschaft reagiert, treffen zwei Formen von Gewalt aufeinander, die sich wechselseitig zu verstärken vermögen. An dieser Bruchlinie ergeben sich folgende Leitfragen: Unter welchen Bedingungen stellt nicht nur Gewalt innerhalb und aus der Gesellschaft, sondern auch exzessive, illegitim ausgeübte Staatsgewalt die demokratische Ordnung in Frage? Wann und warum führt das Zusammentreffen dieser beiden, sich vielfach bedingenden Formen von Gewalt zur Destabilisierung der Demokratie? 

Zum Verhältnis von monetärer und demokratischer Souveränität

Die Eurozone gilt als Paradebeispiel einer technokratisch verfassten, den primären Routinen demokratischer Willensbildung enthobenen Geldordnung. Die Gemeinschaftswährung entstand unter dem Mantra finanzwirtschaftlicher und -politischer Akteure des späten 20. Jahrhunderts, die den Schutz des Privateigentums durch eine Entkopplung monetärer Gestaltungskapazitäten und demokratischer Souveränität sicherstellen wollten, um die für das liberale Demokratiemodell wesentliche individuelle Freiheit zu realisieren. Damit existierte eine Bruchlinie, an der die monetäre Souveränität in Europa nicht nur dem Selbstregierungsanspruch des Volkes entgegenzustehen scheint. Die Währungsgemeinschaft kaufte sich auch sozio- und politökonomische Unwuchten ein, die sich gegenwärtig intensivieren und zu einem weiteren Aufbrechen des Unionsprojekts führen könnten. Diese Unwuchten zeigen sich in krisenbedingt und strukturell überforderten Staatshaushalten, die auf Sondervermögen und Schattenbudgets zurückgreifen, in den Schwierigkeiten der Zentralbank, zwischen der Rückkehr der Inflation und der Finanzstabilität zu vermitteln, den verzögerten Reaktionen Europas auf die Herausforderungen der Digitalisierung des Geldes und den hitzigen Ad-Hoc-Antworten auf die geopolitische Weltunordnung, deren Machtkämpfe nicht zuletzt über die Zahlungsinfrastruktur ausgefochten werden. Wie hat sich das Verhältnis von monetärer und demokratischer Souveränität historisch entwickelt, wie führt es zu politökonomischen Spannungen und welche Zukunft hat der Euro als Gemeinschaftswährung angesichts seiner Konstruktionsdefizite? 

Zum Verhältnis von Territorialität und Demokratie

Demokratische Souveränität scheint gegenwärtig in mehrfacher Hinsicht durch die Zersetzung ihres Anspruchs auf ein national bestimmtes Territorium in Frage gestellt. Globalisierung und Europäisierung lösen in dieser Perspektive die festen Grenzen demokratischer Nationalstaaten auf, weil Menschen, Waren und Finanzen sich zunehmend an einer neuen transnationalen Ordnung orientieren. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Grenzen demokratischer Territorialität schon immer ambivalent und damit brüchig waren. Zum einen sind die europäischen Demokratien nicht gegen, sondern gemeinsam mit supranationalen Herrschaftsformen (Kolonialreiche, Europäische Gemeinschaft) entstanden. Zum anderen war ihr territorialer Souveränitätsanspruch auch nach innen angesichts fortbestehender rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Vielfalt niemals eindeutig. Vor diesem Hintergrund gehen wir der Frage nach, ob der Bezug auf räumliche Begriffe im gegenwärtigen Kampf um demokratische Ordnung der territorialen Ambivalenz von Demokratien eine neue Qualität verleiht. Inwiefern legt der Anspruch auf „Ländlichkeit“ im Protest der französischen Gelbwesten oder der europäischen Bauern eine fundamentale Bruchlinie demokratischer Ordnung offen? In welcher Hinsicht stellt die politische Mobilisierung gegen „Europa“ im Namen nationaler oder regionaler Identitäten eine neue Herausforderung europäischer Demokratien dar? 

Das Forschungskolleg wird eine Reihe internationaler Konferenzen zu den drei oben genannten „Bruchlinien der Demokratie“ organisieren. Begleitend zu diesen Konferenzen werden Ausschreibungen für Kurzzeit-Fellowships erfolgen, die sich in erster Linie an PostdoktorandInnen und etablierte ForscherInnen richten. Erfolgreiche Bewerber erhalten damit Gelegenheit, für eine Periode zwischen 4 und 12 Wochen mit den WissenschaftlerInnen des HIS zusammenzuarbeiten, um unter anderem Input für die geplanten Konferenzen zu geben und auch um Publikationen vorzubereiten, die im Themenfeld des Research Hub liegen. Die Fellowships beinhalten auch die Möglichkeit der Unterkunft in Gästezimmern, die sich im Gebäude des HIS befinden.

Eine erste Konferenz zum Thema „Excessive State Power and State Killings in Democracies“ wird im März 2026 stattfinden:
Call für Fellowships im Historisch-Soziologischen Forschungskolleg Bruchlinien der Demokratie: Gewalt – Souveränität - Territorialität des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) zum Thema "Excessive State Power and State Killings in Democracies"
Weitere Konferenzen zu den Themen „Politics of Payments in Transition. On Fault Lines of Money and Sovereignty” und “Mobilizing Rurality. Fault Lines of Spatial Order in European Democracies” sind noch für das gleiche Jahr in Planung. Für 2027 werden weitere Konferenzen zu den drei Bruchlinien in Absprache mit den zukünftigen Fellows vorbereitet.

Bei Fragen zum Forschungskolleg wenden Sie sich bitte an Carolin Müller