Postsouveräne Territorialität

Die Europäische Union und ihr Raum
Projektstart: März 2013

In den soziologischen, politikwissenschaftlichen sowie historischen Forschungen zum Wandel von Staatlichkeit in der (Post-)Moderne steht der Souveränitätsbegriff häufig im Mittelpunkt der Theorie- und Konzeptionalisierungsanstrengungen. Doch die wechselseitige Abhängigkeit zwischen postsouveräner Staatlichkeit und territorialer Ordnung bleibt dabei zumeist unberücksichtigt. An dieser Schnittstelle, also den gegenwärtig zu beobachtenden Wandel von Souveränitätsansprüchen, Staatlichkeitstheorien und räumlichen Ordnungskonzepten setzt das Projekt "Postsouveräne Territorialität" an und fokussiert im Kontext der fortschreitenden Europäisierung einen Veränderungsprozess, durch den sich nicht nur individuelle Rechtsansprüche und Zugangsbedingungen zu Märkten und wohlfahrtsstaatlichen Leistungen gravierend verändern, sondern vor allem regionale, nationale und supranationale Zugehörigkeiten variiert und anders konfiguriert werden. Mit dem Konzept der Postsouveränität, das von einer geteilten, sich überlappenden und damit nicht mehr klassisch-autonomen Souveränität ausgeht, stellt sich die Frage der territorialen Verfasstheit von Ordnungssystemen und damit auch die der jeweiligen Zugehörigkeitskonzepte faktisch neu. Bisherige, nationalstaatlich verfasste Angebote werden immer stärker "supranational übergangen oder ethnisch-regional unterlaufen" (Claus Leggewie), ohne dass diese Verformungen politisch bewusst gestaltet oder gar wissenschaftlich hinreichend reflektiert werden. An die Stelle klassisch-territorialer Differenzmarkierungen treten immer häufiger "invisible frontiers", die eben nicht mehr auf herkömmlichen Raumparametern, sondern auf institutionalisierten, regulatorischen Verfahren innerhalb und jenseits der nationalstaatlichen Ordnungen beruhen.

Inwiefern Zugehörigkeit, Letztinstanzlichkeit und Herrschaftsmonopol in politischen Systemen wie dem der Europäischen Union überhaupt noch territorial zu denken sind, ist eine bisher nicht hinreichend analysierte Forschungsperspektive, obgleich supranationale Systeme wie die Europäische Union nationalstaatliche Territorialkonzepte nachhaltig konterkarieren. Territorialität kann also in solchen supranationalen Gefügen nicht mehr uneingeschränkt als räumliches Organisationsprinzip und damit als ein Kernelement staatlicher Souveränität definiert sein. Möglicherweise hat Territorialität als konstitutives Element europäischer Souveränitätskonzepte sogar ausgedient oder bleibt als völkerrechtliches Anerkennungselement allenfalls noch materieller Bestandteil einer nunmehr "pooled and shared sovereignity" (Aleksandra Lewicki).

Auf Grundlage einer im November 2011 am Hamburger Institut für Sozialforschung durchgeführten Tagung soll das Thema "Postsouveräne Territorialität" theoretisch wie empirisch erschlossen und unter Einbeziehung verschiedener Forschungsperspektiven vertieft werden. Gerade die fachlich eigenständigen und naheliegenderweise heterogenen Zugänge verdeutlichen, dass raumtheoretische Zugriffe überaus ertragreiche Strategien darstellen können, um dem Selbstverständnis der EU wie auch ihren Integrations- und Erweiterungspolitiken nachzugehen. Es gerät ein komplexer Europäisierungsprozess in den Blick, der zwar immer wieder auf klassische Raumkonzepte rekurriert, sie aber zugleich durchbricht, ohne darüber intensiver zu reflektieren. Das Projekt fokussiert einen signifikanten Transformationsprozess und liefert Impulse für eine notwendige, aber bisher allenfalls eröffnete Debatte über "Postsouveräne Territorialität".

(Stand März 2013; das Projekt wurde von März 2013 bis März 2015 am HIS bearbeitet)